Die Fastnachts-Kampagne 2021 in Mainz neigt sich dem Ende zu, aber was war das für eine seltsame Fastnachtszeit: Homeoffice statt Fastnachtsumzug, Livestream statt Fastnachtssitzung – nein, die Narren werden diese Kampagne 2021 so schnell nicht vergessen. Dabei würden sie es gerne, denn auch wenn sich die Narren heldenhaft gegen einen Totalausfall stemmten: allzuoft blieb nach dem Ende des Streams ein leeres Gefühl – dieser Fastnachtskampagne fehlten Nähe, buntes Treiben und vor allem die Menschen an der Seite. Zeit für eine Bilanz der Streaming-Kampagne 2021.
2021 wurde wahrlich der Alptraum aller Narren wahr: eine ganze Fastnachtskampagne praktisch ersatzlos gestrichen, keine Umzüge, keine Bälle, und fast am schlimmsten noch – auch keine Fastnachtssitzungen. Die Narrenzeit, das sind ja schließlich nicht nur die tollen Tage kurz vor und an Rosenmontag, nein, die Narrenzeit beginnt schließlich am 1. Januar – und wohl noch nie in der Nachkriegszeit wurden gerade Humor, Lachen und eben dieses bunte Narrentreiben in Sälen und Kneipen so vermisst wie in diesem Jahr.
Aus Sitzung wird Streamung beim GCV
Aber die Fastnacht einfach komplett streichen? Für echte Mainzer Narren undenkbar, und so wanderten Büttenreden und Musikacts dorthin, wo alle anderen auch schon saßen: in die weite Welt des Digitalen. Den Anfang machte bereits 2020 im November der Gonsenheimer Carnevals-Verein (GCV): „Bei aller Abstinenz ist doch der Wunsch und die Sehnsucht groß, was Fastnachtliches zu erleben mit Freunden“, sagte bereits im Oktober GCV-Pressesprecher Stefan Schuth, und betonte: „Fastnacht kann nicht ausfallen – die Frage ist nur, wie wir es feiern können.“
Eine „Stehung“ hatten sie in Gonsenheim ja schon vor zehn Jahren erfunden, nun folgte die konsequente Weiterentwicklung: Der GCV lud zur „Streamung“. Bei immer noch warmen Temperaturen stand die Bütt dann eben im Vorgarten und wurde von Christophe Hintz mit einer liebevoll-sehnsüchtigen „Ode“ bedacht: „Die Welt steht Kopf, die Zeit steht still, und Dummheit kreischt besonders schrill“, dichtete Hinz: „Wird ein Impfstoff bald zum Star, wird alles, wie es einmal war?“ Die „Schnorreswackler“ ebenso wie das Ballett sangen und performten einzeln aus dem Homeoffice, und die Bockius Brüder wanderten eben in einer menschenleeren Kneipe umher. Was niemand vorher hätte sagen können, geschah: Die erste „Streamung“ wurde ein voller Erfolg, die professionelle Kombination aus Clips und Sketchen zeigte den anderen Vereinen, dass Fastnacht auch digital funktionieren kann.
Und so wurde es eine wahre Streaming-Kampagne, aus den ersten vorsichtigen Versuchen wurde ein Marathon an Online-Sitzungen. „Die Wetterlage im Netz ist super, über Mainz hängen ein paar iClouds“, verkündete so Fastnachts-Nachrichtenmann Lars Reichow am 6. Februar bei der offiziellen GCV-„Streamung“ der Kampagne 2021, und hatte gute Aussichten im Gepäck: „Abnehmender Frust, närrisch und ausgelassen.“
Die Vorhersage wurde so was von wahr: Der GCV brannte ein ganzes Feuerwerk an närrischen Ideen ab. Da dichtete Christoph Seib eine wunderschöne Moritat auf „Zehn kleine AfDler“, von denen am Ende – wie beim Original auch – keiner übrig blieb, kochten Philipp Stein und Narrenkoch Jacques (Johannes Emrich) für den digitalen Pausenempfang und unterhielt sich Rudi Hube als „Alleinunterhalter“ notgedrungen seit Wochen im Corona-Lockdown selbst. Thomas Becker und Frank Brunswig schickten den da noch gar nicht ge-exten US-Präsidenten Donald Trump auf die Psychiater-Couch, und Christophe Hinz dichtete ein ganzes Trump-Musical dazu – da war das große Narrenkino einfach ins Fernsehen gehüpft, und Corona ganz weit weg.
Digitale Fallstricke beim Ton, geniales Narrenkino im Netz
Zusammengehalten wurde das Narrenkino durch zwei zeitreisende Bockius-Brüder, die im Auftrag des Herrn Gott Jokus zu finden suchten, und sich dafür ebenso durch die Narren-Historie von Mainz zappten wie Martin Heininger und Christian Schier, der beim Fernsehkauf Dank Margit-Magie mitten in legendäre „Mainz bleibt Mainz“-Szenen gezappt wird – schier unglaublich. Und doch machte gerade diese Nummer deutlich, wo die Fallen der digitalen Sitzung lauern: beim Ton. Gleich mehrere Auftritte der „Streamung“ litten unter Rauschen oder Distanz-Mikros, das trübte die Nähe der Akteure zum Publikum gelegentlich sehr.
Ganz nah dran dagegen die Herpes House Band, die Corona-konform nur zwei Mitglieder auf Spurensuche nach dem geheimen Ghostwriter der Fastnacht schickten, und dabei – welch grandioser Einfall – nicht nur schlafende Hunde weckten (oder war es nur Hans Peter Betz?) und die gesamte Narrenszene auf den Arm nahmen, sondern niemand Geringeres als den Brillenmann von „Mainz bleibt Mainz“ aufspürten – wow. Getoppt wurde das eigentlich nur vom genialen Teleshopping-Event mit Reiner Wucher und Judy Obstler (Thorsten & Torsten natürlich), die nach den berauschenden Plastiktüten in diesem Jahr natürlich Toilettenpapier unters Volk brachten – und wie…
Die „Streamung“ belehrte auch all die eines besseren, die gedacht hatten, digitale Fastnacht bedeute einen Haufen Alt-Reden aus den Vorjahren – nix da: Praktisch alle Akteure bei allen Vereinen präsentierten frisch Geschriebenes eigens für diese Corona-Kampagne, und das, obwohl die allermeisten Vorträge nur ein einziges Mal gehalten wurden – einzig GCV-Prokoller Erhard Grom durfte mit seinen Reimen auch noch bei „Mainz bleibt Mainz“ glänzen.
Sohn Sebastian Grom führte derweil nicht nur ausgesprochen locker-gekonnt durch diese ungewöhnliche Narrenschau, sondern glänzte auch erneut mit hochpolitischer Satire als Buchdrucker-Lehrling, dieses Mal sogar an der Buchdruckerpresse im Gutenberg-Museum – Wahnsinn. „Eines ärgert mich“, sagte Grom Junior noch: „Wir hätten Biontech einfach früher die Fastnachtstermine durchgeben müssen.“ Wie wahr…
Digital-Stau am Saaleingang und andere Stream-Ausfälle
Was da so spielerisch-leicht wirkte, bedeutete im Hintergrund allerdings enorm viel Arbeit – und angesichts der neuen Techniken und Formate bleib auch so manche Panne nicht aus. Schon der GCV hatte vor Beginn der Streamung mit „Stau am Saaleingang“ zu kämpfen, weil zu viele Besucher gleichzeitig in den Stream stürmten – der GCV löste das Problem elegant mit Überbrückungsprogramm bis die Streamung mit 20 Minuten Verspätung starten konnte. Die Probleme hatten auch andere: Beim Mainzer Carneval-Verein mussten die Besucher gar eine geschlagene Stunde warten, bis sich die Server von den Zugriffen von um die 5.000 Zuschauern auf einen Schlag erholt hatten – viele der zahlenden Besucher wandten sich da verärgert ab.
Es blieb nicht bei diesem einen Mal: Auch am Fastnachtswochenende berichteten User mehrfach von massiven Ausfällen der MCV-Mediathek, das traf unter anderem die Fastnachtsposse, aber auch den zweiten Teil des Fastnachtsstreams. Gleich zwei Mal hatte der MCV zur digitalen Sitzung geladen, und so wurden etwa Teile des närrischen Protokolls von Patrick Henkel oder die Strophen der Bänkelsänger einfach zweigeteilt – Fortsetzung in einer Woche. Der Nebeneffekt: die einzelnen Nummern waren ausgesprochen kurzweilig, die gekürzten Längen machten Lust auf mehr – und die stark erhöhte Abfolge der Beiträge brachte viel Schwung in den Fastnachtsstream.
MCV: Närrische Sternstunde beim Bajazz-Zwiegespräch
Zu Highlights wurden dabei der närrische Streifzug des einsamen Gardisten Marcus Schwalbach durch die Coronazeit, Patrick Henkels „Bares für Rares“-Einlage mit seiner Versteigerung eines defekten Wirbel-Willis und die freche Talkshow-Einlage des Schweinfurter Imports Peter Kuhn. Musikalisch allerdings setzte der MCV eher auf Melancholie – manch einem Zuschauer wurde das zu viel Blues. „Was sängen wir so gerne/ein Tag so wunderschön“, seufzten da Paco & Paco mit einer fantastischen Imagine-Version, doch auch mit ihrer zweiten Englishman in New York-Nummer blieben sie her getragen – den gesungenen Kokolores hielt vor allem Christian-Friedrich Vahl als „Corona-Choronist“ hoch.
Zur närrischen Sternstunde indes wurde René Pschierers Zwiegespräch als Bajazz – denn der „redete“ mit niemand Geringerem als seinem legendären Vorgänger Willi Scheu, dessen eingespielten Zitate aus früheren Reden geradezu Gänsehaut verursachenden-genau zur heutigen Coronalage passten. „Sich gegenseitig unterstützen, ist eines guten Bürgers Pflicht“, riet da der historische Bajazz Scheu: „Das wird am Ende allen nützen, das ist mein Wunsch – mehr wollt ich nicht.“ Und Pschierer ergänzte mit feiner Narrenlyrik: „Mehr können wir auch nicht verlangen, als Narr immer neu anzufangen, im Wissen der Vergänglichkeit. Auch dunkel Zeiten werden enden, und manche Narbe wird zur Zier, die Windrichtung kann man nicht ändern – aber die Segel setzen: Wir.“
Fastnachts-Rap & Rock auf DisTanz und im 05er-Stadion
Doch die digitale Fastnacht war nicht nur poetisch-nachdenklich – es rockte auch, und das gewaltig. Am Fastnachtssonntag luden MCC, Prinzengarde und GCV zur ersten Stadionsitzung, und in der imposanten Kulisse der Opel-Arena wurde völlig Corona-konform mit den Rot Rock Rappern, Oli Mager, den Humbas und den Bockius Brothers abgerockt. Das Experiment zeigte aber auch: Fußball & Fastnacht spielen nicht unbedingt in gleichen Welten, die Gräben sind manchmal tief. Fürs närrische Highlight sorgte aber unangefochten Jürgen Wiesmann als „Rasendätschler vunn de Opel-Arena“ – unglaubliche Narretei auf dem heiligen Arena-Rasen und eigens für diesen verfasst.
Zum einzig wahre Fastnachtkonzert der Kampagne aber wurde die DisTanz: MCC und Prinzengarde hatten an Weiberfastnacht zur digitalen Narrenparty geladen, als Ersatz für Fastnight, Prinzengardeball und Sitzung in einem – es wurde zum Schaulaufen der jungen Fastnachts-Musikszene.
Mit „Hübsche Bübsche“, „Handkäs‘ und sei Mussigg“ und „Die Moritze“ – die Entdeckung der digitalen Kampagne – kamen gleich drei junge Bands direkt nacheinander, ein tolles Lebenszeichen der Mainzer Fastnachtsszene. Dazu schnelle Zwischenschnitte, Kurzeinlagen von „Ernst Lustisch“, gute Moderationen – und schließlich ein Feuerwerk von Fastnachtsrock bis Fastnachtsrap mit den RotRockRappern – da bebte der Fußboden vor dem Fernseher, und der Küchentisch mit der Rieslingschorle schwankte gewaltig.
Die Einsamkeit des Streaming-Narren
Und doch war da immer dieser Moment nach dem Ende des Streams, wenn der Narr allein zurückblieb, und die Wohnung auf einmal so leer wirkte… wenn die Realität mit voller Wucht des Corona-Lockdowns zurückkehrte. Die digitale Fastnacht, sie dürfte in Zukunft so einiges an Fortsetzungen finden, gestreamte Fastnachtsshows erreichten Tausende von Zuschauern, und das in der gesamten Republik. Und vielleicht führen die oft peppigeren digitalen Formate auch in Zukunft dazu, dass analoge Vorträge kürzer und durchaus auch knackiger werden – wie bei so vielem, wird die Corona-Pandemie auch in der Fastnacht den Sprung in die Zukunft beschleunigen, das zeigte sich nicht zuletzt auch in der Fernsehsitzung „Mainz bleibt Mainz“.
Doch eines können die digitalen Formate eben nicht: die Nähe, die Intensität und das Miteinander von feiernden Narren ersetzen. „Denn ich will schunkele von früh bis spät, bis wirklich nichts mehr geht“, singen die Bockius Brothers in ihrem neuesten Hit, und flehen: „Oh, ich bitte dich, Gott Jokus, erhöre mein Gebet!“ Und der Narrengott, am Ende der Sitzung über einem wahrhaft gespenstisch leeren Saal des Kurfürstlichen Schlosses schwebend, verspricht: „Bis nächstes Jahr ist alles wieder gut.“
Die Fastnacht als große Trösterin: „Alles wieder gut“
Die Fastnacht, sie ist im Corona-Trübsal wieder einmal zur großen Trösterin geworden, kein Wunder, dass Ernst Neger und sein „Heile Gänsje“ zum wahren Rettungsanker der Corona-Kampagne wurde – ausgerechnet ein 54 Jahre alter Melancholie-Song. Die moderne Varianten steuerten die Bummtschacks mit „So lang de Rhoi noch Wasser hat“, aber vor allem Matthias und Andreas Bockius bei: „Und dann simmer wieder he, und dann ist es wieder schee, dann ist alles wieder gut“, singen sie in ihrem jüngsten Hit, und Sebastian Grom formulierte das Narren-Versprechen für die Nach-Coronazeit: „Wir werden es krachen lassen, wir holen alles nach!“
Info& auf Mainz&: Nicht alle digitalen Formate konnten in dieser Narren-Bilanz ihren Platz finden – eigene Texte zum Fastnachts-Talk „Gelock(e)t“ von der Füsiliergarde findet Ihr hier bei Mainz&, und einen ausführlichen Bericht zur Fernsehsitzung „Mainz bleibt Mainz“ in der Corona-Version lest Ihr hier.