Rheinhessen, das ist ja für viele Menschen noch so ein weißer Fleck auf ihrer persönlichen Weinkarte: Ein weites Land mit vielen kleinen Weingütern, von denen man die meisten gar nicht kennt. Doch die Höfe, nach außen oft verschlossen bergen im Innern manche Überraschung: exzellente Weine, rheinhessische Tappas, Weinproben mit Farbe und ein Theater in der Winzerscheune. Weinentdecker in Rheinhessen sein – wir waren mit dem Nostalgie-Oldtimerbus unterwegs.
„Das war der itsi-bitsi teenie-weenie Honolulu Strandbikini..“ schallt es aus den Lautsprechern. Schlager der frühen 1960er Jahre sind aufgelegt, schließlich stammt unser Bus aus dem Jahr 1966, den Jahren der Wirtschaftswunderzeit. „Unsere Gäste singen gerne lauthals mit“, sagt Michael Werner, unser Gastgeber. Erik tut ihm den Gefallen. Alles lacht.
Gemütlich rollt der alte Setra S14 die kleinen Straßen entlang, hügelauf, hügelab. An Bord: Gut 40 neugierige Weinentdecker. Sie kommen aus dem Lahntal und dem Weserbergland, aus Oberfranken, dem benachbarten Rheingau und aus Frankfurt. Was sie von Rheinhessen erwarten? „Der Wein muss schmecken“, sagt ein Gast.
Wir tauchen ein in blaue Farbe. Im ehemaligen Getreidelager im Weingut Dr. Hinkel in Framersheim taucht Roland Hinkel den Raum in satte blaue Töne. Kälte, Schnee, Frische suggerieren die Dias dazu an der Wand, der Wein schmeckt frisch, leicht. Dann wechselt die Farbe zu grün – und plötzlich schmecken wir Kräuter, würzige Noten, und das bei exakt demselben Wein!
Die Farbweinprobe im Weingut Hinkel verblüfft uns total. 2014 bekamen die Hinkels dafür den internationalen Preis der Great Wine Capitals für „Innovative Weinerlebnisse“. Wir müssen an den Urlaubseffekt denken, wo der Wein im warmen Süden nach Sommer, Sonne, Ferien schmeckt – zuhause aber auf einmal enttäuscht. Jetzt lernen wir: Es ist das Licht der Umgebung, das unsere Geschmacksknospen narrt.
Wir trinken und staunen. Und wir essen: der erste von vier Gängen beschert uns Sülze von Tomaten-Mozzarella, Lachstatar, Käsespieß, Spargelcocktail. Ein Gedicht. Vier Gänge wird unser Menü an diesem Abend haben, jeder Gang wird in einem anderen Weingut serviert – eine logistische Meisterleistung.
Drei Suppen gibt’s im Gustavshof in Gau-Heppenheim. Das Wetter ist kühl, leider, doch wir genießen die letzte Sonne des Tages im Hof. Das alte Backstein-Gebäude hat eine moderne Vinothek, auf den Stufen steht unser Gastgeber: Winzer Andreas Roll. „Schön, dass sie da sind“, begrüßt er die Gäste trotz Samstagabend: „Das sind immer nette Runden, lustige Stimmung, spannende Gruppen – und meistens kriegen wir auch was vom Essen ab“, sagt er lachend. Rheinhessische Gastfreundschaft.
„Der Blanc de Noir vom Cabernet Sauvignon war eigentlich ein Zufall“, erzählt Roll, der Saftabzug bei der Maischegärung wollte auf einmal ein eigener Wein werden… Jetzt ist der Blanc de Noir der Verkaufshit im Gustavshof und schmeckt ausgezeichnet zur Radieschencremesuppe. „Wir haben da mal experimentiert“, sagt der Koch zur ungewöhnlichen Suppe, „sie sind die ersten, die es kosten müssen.“ Rheinhessische Experimentierfreude & Bescheidenheit.
„In der Pfalz liegen die Restaurants direkt an der Weinstraße – hier muss man sie suchen gehen“, sagt Werner. Wir sind zurück im Omnibus und schaukeln sanft durch die hereinbrechende Dunkelheit. Werner ist der Chef des Best Western-Hotels in Alzey, 2015 gewannen sie den Great Wine Capitals-Award in der Kategorie Weintourismus.
„Wir versuchen Deutschland weit Gäste nach Rheinhessen zu locken und denen die Region näher zu bringen“, sagt Werner. Eine Picknickfahrt mit Gläschen Wein, Grillen im Weinberg – das Wochenende gehört dem Weintourismus. Und neulich sagte ein Gast, „Schatz, wir müssen gar nicht in die Toskana fahren!“
Im Weingut Storr in Dautenheim machen sie Theater, Tschechov’s „Der zerbrochene Krug“ etwa. Die Theaterscheune ist ein alter Zehnthof, die Familie seit 450 Jahren hier ansässig. Die erste römische Villa Rustica grub der Opa aus, der Scherben-Schorsch. „Die Kultur war schon hier“, sagt Hausherr Bernhard Storr, „wenn wir es nicht schaffen, das aufrecht zu halten, dann sind wir wieder im Mittelalter.“
Also spielen sie in der Theaterscheune gegen den Werteverfall des Abendlandes, bauen preisgekrönte Braugerste an und machen quasi nebenher richtig gute Weine. Auf uns warten ein tiefroter Accolon, Jahrgang 2014, und ein phantastischer Blanc de Noir vom Spätburgunder. Und unser dritter Gang: Rindermedaillons mit Blaubeer-Honig-Sauce. Himmlisch.
„Ab und zu versack‘ ich beim Bernhard im Keller“, bekennt Werner. „Das sind philosophische Runden“, wirft der Winzer ein. „Lass uns auch eine philosophische Runde machen…“, sagt ein Gast, und greift beglückt zur Weinflasche. Storrs Schwester ist promovierte Theaterwissenschaftlerin, so kam das Theater ins Weingut. 2012 bekamen sie den Great Wine Capital-Award für Kultur, 2011 den für Tourismus. 2016 wollen sie „Die Möwe“ spielen, „dafür braucht man eigentlich eine Seebühne…“, sagt Storr.
Satt und glücklich rollen wir im dunklen Bus durch das nächtliche Rheinhessen. „Wir wollen niemals auseinander geh’n“, schmalzt es aus dem Lautsprecher. Wie wahr. „Hallo, schlaft Ihr schon?“ ruft Erik durch den Bus, und wir sind alle wieder wach und singen „Sugar, Sugar Baby, bleib heut‘ Nacht bei mir!“
In Dittelsheim-Hessloch ist alles finster, die Straßen leer. Doch in der Abfüllhalle von Christian Roll ist noch Licht. Die nüchterne Halle ist mittels blauer Scheinwerfer in eine coole Location verwandelt. Hier warten Gläser, Weine, der Hausherr – und der Nachtisch. Das Cuvee „Lete“ ist aus Riesling, Sauvignon Blanc, Weißburgunder und Müller-Thurgau und passt phantastisch zur Erdbeertiramisu.
Huxelrebe gibt’s zum Pistazienparfait, danach einen Kerner Eiswein aus dem Jahr 2004 zur feinen Mousse au Chocolat. Es ist 23.30 Uhr, und der Winzer ist fit. „Eiswein braucht Säure“, erklärt Christian Roll, „er gibt dem Wein Struktur.“ Und wir lassen uns den Geschmack von ganz viel Honig, Mandel und Karamell auf der Zunge zergehen.
„Wir sind relativ altmodisch“, sagt Christian Roll, „wir nehmen die Trauben und versuchen daraus Wein zu machen.“ Schönungsmittel für den Wein sind hier verboten. Wir stehen in der Abfüllhalle, plaudern über den Herrn Huxel, der im benachbarten Westhofen als erster eine gewisse Rebe anbaute, und über Rotweine wie „filigrane Sumo-Balletttänzer“. Nachts in Rheinhessen tanzen die Reben Ballett und die Weine auf der Zunge.
0.40 Uhr, der Bus rollt zurück nach Alzey ins Hotel. „Vielen Dank, dass Sie den Spaß mitgemacht haben“, sagt Werner zu seinen Gästen: „Sie sind jetzt Weinentdecker Rheinhessen!“