Die Fastnachtskampagne 2023 ist vorbei, und im Jahr eins „nach“ Corona zeigte sich: Vollkommen zurück zu „normal“ war das noch nicht. Vor allem die Saalfastnacht litt unter den Nachwehen: Viele Sitzungen waren nicht ausverkauft oder wurden sogar mangels Nachfrage gleich ganz abgesagt – die Finanzlage ist bei vielen Vereinen weiter schwierig. Doch selbst bei halbleeren Hallen: die Stimmung auf den Sitzungen war gigantisch, es wurde gefeiert, als gebe es kein Morgen mehr. Was heißt das für die Zukunft, und welche Chance haben neue Formate? Der Versuch einer Bilanz zur Fastnachtskampagne 2023.
Es war im Februar 2022, die Republik ächzte unter einem bösen Corona-Winter, Infektionszahlen und Sterberaten waren hoch – da rief der Karneval Club Kastel (KCK) zur „Fenstersitzung“ nach Mainz. Statt in voller Halle, tagte man vor dem Hotel: die Bühne stand vor dem Hyatt auf der Rheinpromenade, die Gäste logierten in den Hotelzimmern und verfolgten die Sitzung unten vom Fenster aus. Das Experiment wurde ein voller Erfolg. In der Kampagne 2023 hatte der KCK zur Wiederholung geladen, und die spannende Frage war: Würde das Format auch in der Nach-Corona-Zeit funktionieren?
Ende Januar konnte Daniel Vetter als Sitzungspräsident in Vertretung ein Hotel mit Zimmern voller Narren von der Bühne vor dem Hyatt aus begrüßen – die Fenstersitzung des KCK war im Handumdrehen ausverkauft gewesen. Es wurde ein zauberhafter Narrenabend: „Verdamp lang her“, sang die Spaßmacher Company, und „Let me entertain you!“ Und genauso wurde es dann auch: Die Rhein-Mainzer rockten, der Deutsche Michel sezierte die politische Landschaft mit süffisanten Versen, und das närrische Duo „Hotte und Pit“ sorgte mit seiner urkomischen Sternekoch-Wein-Nummer für wahre Lachsalven.
Sitzungen mangels Kartenverkauf abgesagt, halbleere Säle
Dann kamen als Highlight auch noch „Charles“ und „Camilla“ vorbei, und die Eisbären brachten zu später Stunde das Eis in den Gläsern vor der Tür zum Schmelzen – es war eine wunderbare Narrennacht. Und doch zeigte sich auch eine Schwäche des Konzepts: Während man in den Hotelzimmern jedes einzelne Wort von unten gestochen scharf vernahm, kam bei den Aktiven auf der Bühne von den Begeisterungsstürme hinter den Fenstern von oben naturgemäß wenig an. Die Party im Hotelzimmer, ein Zeichen für die Vereinzelung des Narren?
Erstaunlicherweise Nein: Die Fenstersitzung schaffte es trotzdem, das Gemeinschaftsgefühl einer Fastnachtssitzung zu wecken – allen Mauern zwischen den Zimmern zum Trotz. Und trotzdem konnte man dieses Feiern in vertrauten Gruppen, aber im geschützten Raum des eigenen Zimmers noch einmal als eine Art Symbol für diese Fastnachtskampagne 2023 sehen: Feiern ja, aber mit Menschenmassen – viele sagten da noch Nein.
Denn die Vereine erlebten vor Beginn der Kampagne ein Phänomen, das viele so überhaupt nicht kannten: schleppenden Kartenverkauf, nicht-ausverkaufte Sitzungen, ja mancherorts gar halbleere Säle. „Wir waren sonst immer ab August komplett ausverkauft“, berichtete etwa der Präsident des Mainzer Carneval Club (MCC), Florian Sitte im Gespräch mit Mainz&: „Wir kämpfen damit, die Säle vollzubekommen.“ Bei anderen Vereinen wurden gar ganze Sitzungen abgesagt, statt vier oder fünf Events nur zwei veranstaltet.
Corona-Welle, Inflation, Preissprünge – schwere Zeiten für Vereine
Eine „Entwöhnung“ durch zwei Jahre Corona-Pause stellte Sitte fest. Gerade viele Ältere aber scheuten sich noch, wieder ungehemmt in vollen Sälen oder mit Menschenmasse zu Feiern – die Corona-Pandemie war in diesem Jahr eben noch nicht komplett vorbei. Gerade im Januar rollte auch noch einmal ein Corona-Welle durch Mainz, viele bekamen das Virus zum zweiten Mal und fielen selbst für eine Woche oder gar mehr aus.
Andere Besucher hatten wegen der Unsicherheiten in Sachen Corona Ende 2022 schlicht noch keine Karten geordert, weil man erst einmal abwarten wollte, wie sich die Lage entwickelte. Und gerade nicht-eingefleischte Fastnachter stellten dann fest: Oh, jetzt ist es zu spät. Dazu kam ein weiterer Faktor: „Es fehlt noch viel an Tourismus“, berichtete Sitte. Zum „Hausfrauenkongress“ des MCC etwa seien früher Gruppen aus ganz Rheinland-Pfalz angereist gekommen, „die sind noch überhaupt nicht wieder da.“
So saß manch ein Verein gar vor halbleeren Stühlen – der Stimmung auf den Sitzungen tat das indes keinerlei Abbruch: Es wurde gefeiert, als gäbe es kein Morgen mehr. Die Hallen bebten geradezu bei den rauschende Narrenfesten, die Entzugserscheinungen aus zwei Jahren ausgefallener Kampagne fegten auf den Sitzungen jede Zurückhaltung hinweg. „Bei denen, die auf die Sitzungen kommen, die haben ein unheimliche Stimmung und eine unglaubliche Lust“, bestätigte auch Sitte.
Explodierende Getränkepreise: All Inklusive als Rettung?
Doch auch das Problem der explodierten Energiepreise und der galoppierenden Inflation Ende 2022 dürfte zur Zurückhaltung geführt haben – auch die Narren mussten sparen. Wer sonst vier oder fünf Sitzungen besucht hatte, beschied sich nun vielleicht mit zweien – auch das bekamen die Vereine zu spüren. Gleichzeitig seien auch die Kosten für die Vereine massiv gestiegen, berichtete Sitte: „Alleine die GEMA hat sich vervierfacht, weil die jetzt pro Fläche abrechnen.“ Doch auch die Nebenkosten seien massiv teurer geworden, „Geld verdienen wir mit keiner einziger Sitzung“, berichtete Sitte, „wir legen bei einem Teil der Sitzungen drauf.“ Wie lange sich die Vereine das leisten können – unklar.
Die Zurückhaltung der Narren dürfte in Teilen aber auch an den mancherorts horrend hohen Getränkepreisen liegen: Wer für eine Flasche Wein mindestens 20,- Euro, meistens sogar mehr, auf den Tisch legen muss, überlegt sich gut, wieviel er konsumiert. Schon vor Corona war zu beobachten, dass sich viele Besucher den Abend über an einer Flasche Wasser festhielten – der Wein war ihnen zu teuer, eine zweite erste Recht. Die Caterer werden in Zukunft gut überlegen müssen, ob sie es sich leisten können, an der preisspirale weiter zu schrauben.
Der MCC hatte genau deswegen einen neuen Versuch gestartet: Eine All-Inklusive-Sitzung bei seiner „Birnbaum-Sitzung“ – der Zuspruch blieb indes hinter den Erwartungen zurück. „Ich hatte eigentlich gedacht, dass das reißenden Absatz findet, aber es war schwierig“, räumte Sitte ein. Das dürfte auch an den stolzen Preisen von 77,- Euro bis 99,- Euro pro Karte gelegen haben – das wirkte wohl doch abschreckend. „Im Preis waren Wein, Wasser, Getränke, der Eintritt und sämtliches Essen während der kompletten Veranstaltung enthalten“, betonte Sitte – rechnet man die einzelnen Posten zusammen, kommt ein Narr schnell auf mindestens diesen Betrag.
Trend zu Sitzungen mit Mehrwert
All-Inklusive-Sitzungen würden deshalb „die Zukunft sein“, zeigt sich Sitte überzeugt. Vielleicht aber sei es nicht das ideal Jahr gewesen, einen solchen Versuch zu starten. „Die Gäste, die da waren, waren völlig begeistert und wollen eine Wiederholung“, berichtet er: „Es war aber ein schwieriges Jahr für ein neues Format.“
Tatsache ist wohl: Der Trend geht hin zu Sitzungen mit Mehrwert – wie eben die Birnbaum- oder die Fenstersitzung. In den Coronajahren hatte der KCK zudem die Närrische Weinprobe „KCK NOW“ ins Leben gerufen, sie wurde mit großer Begeisterung angenommen. Fortgeführt wurde sie in diesem Jahr dennoch nicht – auch die Vereine leiden unter Termin-Kollisionen.
Beim Gonsenheimer GCV ging man deshalb einen Kombinations-Weg: Um die hoch erfolgreiche „Streamung“ der Coronazeit nicht sterben zu lassen, boten die Gonsenheimer einfach eine ihrer Sitzungen aus der Halle auch im Livestream an – aus GCVStreamung wurde die LIVE-Sitzung im Stream. Bei der Füsiliergarde übertrug man einfach die Kneipensitzung aus dem Gonsenheimer Bürgerhof zusätzlich im Livestream – genau solchen Formaten könnte die Zukunft gehören: Vor Ort mitfeiern, wer möchte, aber am Fernseher miterleben können, wer aus irgendeinem Grund nicht in die Halle will oder kann.
Unruhe in den Sälen bei Reden, Verlangen nach Party pur
Überlebt hat die Corona-Zeit auch der SSC Song Contest des GCV, der närrische Musikwettbewerb hat das Zeug zur nächsten Kultveranstaltung. Vor Ort mitfeiern – das war denn in dieser Saison auch vor allem die Domäne der Jüngeren, was sich etwa beim MCC narrenschiff oder aber bei der GCV-Stehung zeigte: Die gigantische Jubiläumsfeier in der Rheingoldhalle mit 3000 Narren wurde zu einem der großen Highlights der Saison, erfüllte sie doch in hohem Maße den Wunsch des Partyvolks nach ungehindertem Abfeiern.
Darunter wiederum litt so mancher Redner im Saal: In den Narrenstuben herrschte bei den Vorträgen oft eine Unruhe, wie man sie aus der Vor-Coronazeit nicht kannte. Da wurde getuschelt und geraschelt, dass man sich fragen konnte: Hört hier überhaupt einer zu? Die Antwort lautete Ja: Die politischen Redner wurden regelmäßig mit donnernden Ovationen gefeiert. Doch die Unruhe führte zu massiver Kritik von Seiten der Aktiven – zu Recht. Womöglich war aber auch sie schlicht dem Übermut nach zwei Jahren Coronapause geschuldet, was daran ist, wird sich in der Kampagne 2024 zeigen.
Flaggschiff „Mainz bleibt Mainz“ schwankt
Das alte Flaggschiff „Mainz bleibt Mainz“ wiederum muss langsam aufpassen, dass es diese Vielfalt der Mainzer Fastnacht mit ihren vielen neuen Gruppierungen, Rednern und Auftrittsformen überhaupt noch abbildet – oder zu einem Abbild dessen erstarrt, was das Fernsehen schon immer zeigte, und immer wieder zeigen will. Die Fernsehquoten sanken jedenfalls in diesem Jahr auf ein neues Allzeittief – an den Aktiven lag es sicher nicht. Aber wenn die Fernsehmacher ihre Regeln aus Angst vor der Fernbedienung über die Dynamik einer echten Mainzer Fastnachtssitzung setzen, stellt sich die Frage: Geht das noch lange gut?
Klar ist nämlich: Die Mainzer Fastnacht wird immer vielfältiger – und das ist gut so. Da war etwa der Helau-Kalender des Mainzer Carneval-Vereins mit seinen 53 Türchen von Neujahr bis Aschermittwoch. Oder die Rückkehr der Närrischen Nachtvorlesung, die mit ihrer Kombination aus närrischer Wissenschaft und beswingter Fastnacht restlos ausgebucht war. Kneipensitzungen wie im „Goldstein“ boomen ohnehin, die intime Form der handgemachten Fastnacht hat eine hohe Anziehungskraft – ebenso wie Turbo-Formate wie die „Fastnight“ oder „Lastnight“ der Mainzer Prinzengarde.
Ob die Narren für all diese Formate in der Kampagne 2024 noch Zeit haben? Den Mainzer Fastnachtern bleiben in der kommenden Kampagne gerade einmal sechs Wochen Zeit für Sitzungen, Empfänge, Feste und Bälle – Rosenmontag ist bereits am 12. Februar 2024. Und ob der Rosenmontag 2023 so schnell zu schlagen sein wird, ist ohnehin fraglich: Der höchste Narren-Feiertag wurde 2023 zu einer der schönsten Parties, die Mainz je erlebt hatte: bei strahlend blauem Himmel und frühlingshaften Temperaturen feierten mehr als 600.000 Menschen so friedlich und ausgelassen in den Straßen von Mainz wie kaum je zuvor. Was für ein Fest – aber tröstet Euch: Der Vorhang geht 2024 ganz bestimmt wieder auf.
Info& auf Mainz&: Alle unsere Berichte aus der Fastnacht findet Ihr hier in der Mainz&-Fastnachtskategorie Narretei&. Warum diese Bilanz so spät kommt? Nun, weil die Autorin pünktlich an Aschermittwoch von der Fastnachts-Grippe heimgesucht wurde… Wir entlassen Euch in die un-närrische Zeit mit unserem Lieblingsfoto der Kampagne 2023, es wurde geschossen beim Mainzer Rosenmontagszug.