Nach wochenlangem Zögern hat die Ständige Impfkommission (Stiko) ihre Empfehlung zu Corona-Impfungen bei Kindern und Jugendlichen überarbeitet – und empfiehlt nun doch die Impfung generell für alle Kinder und Jugendliche ab 12 Jahren, und das ohne jede Einschränkung. Neue Daten zeigten: die Vorteile einer Impfung überwiegen das Risiko „von sehr seltenen Impfnebenwirkungen“, teilte die Stiko am Montag mit: Es gebe „keine Signale für weitere schwere Nebenwirkungen nach mRNA-Impfung.“ Zuvor hatte die Stiko stets betont, man spreche eben keine generelle Impfempfehlung für Kinder und Jugendliche aus, weil noch unklar sei, ob der Impfstoff „sicher sei“. Die Stiko hatte damit erhebliche Zweifel an den Corona-Impfungen geschürt, ihre Empfehlung wochenlang Impfungen von Kindern und Jugendlichen erheblich erschwert.

Der Impfstoff von Biontech ist für Kinder und Jugendliche ab 12 Jahren zugelassen und gilt als sehr gut verträglich. - Foto: Biontech
Der Impfstoff von Biontech ist für Kinder und Jugendliche ab 12 Jahren zugelassen und gilt als sehr gut verträglich. – Foto: Biontech

Die Europäische Arzneimittelagentur EMA hatte den Impfstoff der Mainzer Firma Biontech Anfang Juni für Kinder ab 12 Jahren zugelassen – und zwar ohne Einschränkung. Das Vakzin sei auch für Kinder zwischen 12 und 16 Jahren sicher, hatte die EMA ausdrücklich betont, der Nutzen einer Impfung überwiege bei Weitem mögliche Risiken – die Stiko in Deutschland mochte dem nicht folgen und empfahl die Impfung nur für Kinder und Jugendliche mit bestimmten schweren Vorerkrankungen oder im Umfeld schwer kranker Angehöriger.

Die Folge: Impfungen für Jugendliche zu bekommen, wurde in den Wochen danach deutlich erschwert. Viele Kinderärzte scheuten die Impfung wegen der ausbleibenden Empfehlung der Stiko, die Länder stoppten Impfungen Jugendlicher in ihren Impfzentren – und viele Eltern wurden stark verunsichert, wie sicher der mRNA-Impfstoff denn nun wirklich sei. Denn die Stiko betonte wieder und wieder, man habe „noch nicht genügend Daten“ vorliegen, um beurteilen zu können, ob der Impfstoff „für Kinder sicher sei“. Kinder seien „keine kleinen Erwachsenen“, die Impfung kein Zuckerschlecken – und Kinder erkrankten kaum schwer an Covid-19.

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Impfschlange vor der Mainzer Uni: Während andere Länder längst Jugendliche impften, zögerte die Stiko weiter. - Foto: Uni Mainz
Impfschlange vor der Mainzer Uni: Während andere Länder längst Jugendliche impften, zögerte die Stiko weiter. – Foto: Uni Mainz

Dabei waren auch zu diesem Zeitpunkt bereits mehr als drei Millionen Kinder und Jugendliche in Israel und den USA gegen das Coronavirus geimpft worden, die Daten gaben die Skepsis der Stiko nicht her: Zwar tauchten zu Beginn der Impfkampagnen vor allem in Israel mehrfach Herzmuskelentzündungen bei jungen Männern auf, doch diese verliefen fast ausschließlich glimpflich bis harmlos – Experten hatten deshalb von Anfang an betont: Das Coronavirus selbst könne auch bei Kindern Herzmuskelentzündungen und schwere neurologische Schäden verursachen, sagte etwa der Landesvorsitzende des Berufsverbands der Kinder-und Jugendärzte in Rheinland-Pfalz, Lothar Maurer, und warnte: Das Risiko, dass auch Kinder das Pech hätten, eine schwere Erkrankung zu bekommen, „halte ich für weit, weit höher als das Impfrisiko.“

Nun kommt die Kehrtwende der Stiko kurz vor dem Ende der Sommerferien, zu spät also, um die Kinder und Jugendlichen rechtzeitig vor dem Schulstart noch vollständig zu impfen. Auch der SPD-Politiker Karl Lauterbach hatte die Nicht-Empfehlung der Stiko wiederholt als ausgesprochen hinderlich für den Schutz von Kindern und Jugendlichen vor dem Coronavirus gerade für den Herbst kritisiert: Die aggressive Delta-Variante kursiere gerade auch unter Jüngeren, wer sichere Schulen ohne Schließungen wolle, müsse die Kinder und Jugendlichen zu ihrem eigenen Schutz impfen, forderte Lauterbach.

Kritisierte wiederholt das Zögern der Stiko für eine allgemeine Impf-Empfehlung bei Kindern und Jugendlichen: SPD-Politiker und Epidemiologe Karl Lauterbach. - Foto: gik
Kritisierte wiederholt das Zögern der Stiko für eine allgemeine Impf-Empfehlung bei Kindern und Jugendlichen: SPD-Politiker und Epidemiologe Karl Lauterbach. – Foto: gik

Die Stiko hingegen focht alle Argumente nicht an: Sie beharrte wochenlang weiter darauf, nicht genügend Daten zu haben. Die Gesundheitsminister der Länder hatten Anfang August genug gewartet: Am 3. August gaben sie die Corona-Impfungen für alle Kinder und Jugendliche ab 12 Jahren auch in den offiziellen Impfzentren frei: Man habe nun genügend Impfstoff und in den Impfzentren auch genügend Zeit für die Voraufklärung, hieß es etwa in Rheinland-Pfalz.

Am Montag dann kam die Kehrtwende der Stiko: „Nach sorgfältiger Bewertung der neuen wissenschaftlichen Beobachtungen und Daten“ komme die Stiko jetzt „zu der Einschätzung, dass nach gegenwärtigem Wissenstand die Vorteile der Impfung gegenüber dem Risiko von sehr seltenen Impfnebenwirkungen überwiegen“, teilte die Stiko auf der Homepage des Robert-Koch-Instituts mit. Daher habe man entschieden, die bisherige Einschätzung „zu aktualisieren und eine allgemeine COVID-19-Impfempfehlung für 12- bis 17-Jährige auszusprechen.“ Diese Empfehlung ziele „in erster Linie auf den direkten Schutz der geimpften Kinder und Jugendlichen vor COVID-19 und den damit assoziierten psychosozialen Folgeerscheinungen ab“, heißt es weiter.

Der Vorsitzende der Stiko, Thomas Mertens, verteidigte das wochenlange Zögern der Stiko. - Screenshot: gik
Der Vorsitzende der Stiko, Thomas Mertens, verteidigte das wochenlange Zögern der Stiko. – Screenshot: gik

Gleichzeitig begründete die Kommission noch einmal ihre alte Empfehlung damit, dass Kinder und Jugendliche in Deutschland ein geringes Risiko hätten, schwer an COVID-19 zu erkranken, außerdem habe es zum Zeitpunkt der ersten Empfehlung „einen begrenzten Kenntnisstand über seltene Nebenwirkungen der neuen mRNA-Impfstoffe in dieser Altersgruppe“ gegeben, während gleichzeitig erste Berichte zu den Herzmuskelentzündungen aufgetaucht seien. Und schließlich seien „zum damaligen Zeitpunkt laut Modellierung geringe Auswirkungen der Impfung dieser Altersgruppe auf den weiteren Verlauf der Infektionsausbreitung in Deutschland“ zu erwarten gewesen.

Gleich mehrere dieser Punkte waren indes schon im Juni überholt, so hatten Virologen, Mitglieder des Ethikrates sowie Kinder- und Jugendärzte schon damals kritisiert, die Stiko ignoriere das Problem von Long Covid und dem PIMS-Syndrom, die auch Kinder nach einer Coroninfektion treffen und schwer krank machen könnten. Experten gehen zudem schon lange davon aus, dass auch Kinder und Jugendliche das Coronavirus in gleichem Umfang weitergeben wie Erwachsene, auch wenn sie selbst unter Umständen gar keine Symptome zeigen – sie spielen demnach die gleiche Rolle beim Infektionsgeschehen. Das Argument, Kinder trügen „wenig zum weiteren Verlauf des Infektionsgeschehens bei“, teilte so gut wie kein Virologe, Epidemiologe oder Arzt mehr.

Nun empfiehlt auch die Stiko eine Impfung für Kinder und Jugendliche ohne Einschränkung. - Foto: obs/BKK Mobil Oil/Sven Hoppe, ©Thinkstock
Nun empfiehlt auch die Stiko eine Impfung für Kinder und Jugendliche ohne Einschränkung. – Foto: obs/BKK Mobil Oil/Sven Hoppe, ©Thinkstock

Nun legte die Stiko eine fast vollständige Kehrtwende hin: Es gebe „neue neue Überwachungsdaten, insbesondere aus dem amerikanischen Impfprogramm mit nahezu 10 Millionen geimpften Kindern und Jugendlichen“, heißt es in der Mitteilung weiter, danach könnten „mögliche Risiken der Impfung für diese Altersgruppe jetzt zuverlässiger quantifiziert und beurteilt werden.“ Und dabei muss die Stiko nun auch einräumen: Es gebe bisher „keine Signale für weitere schwere Nebenwirkungen“ nach einer mRNA-Impfung – neben dem Biontech-Vakzin ist auch der mRNA-Impfstoff von Moderna inzwischen für die Impfungen bei Kindern und Jugendlichen zugelassen.

Der Chef des Mainzer Gesundheitsamtes, Dietmar Hoffmann, hatte schon Anfang Juni gegenüber Mainz& gesagt, die mRNA-Impfstoffe seien für Kinder und Jugendliche sehr gut verträglich, die Zulassungsstudien hätten klar gezeigt, „dass es keine Gefahr gibt“. Hoffmannn begrüßte nun auf Mainz&-Anfrage die neue Empfehlung der Stiko als „zu erwarten und folgerichtig“ – gleichzeitig sagte Hoffmann aber auch: „Diese Empfehlung kommt natürlich etwas spät, da es von jetzt an noch einige Wochen dauert bis ein vollständiger Impfschutz vorliegt.“ Die Impfung möglichst vieler Kinder und Jugendlicher könne aber durchaus noch „dazu beitragen, die hohe Zahl der Infektionen in den Schulen, wie wir sie im vergangenen Schuljahr sahen, zu verringern“, sagte Hoffmann weiter. Das könne „einen Effekt auf die spätestens im Herbst zu erwartende nächste Welle haben.“

Wer Schulschließungen verhindern will, muss auch Jugendliche impfen, fordern Experten seit Wochen. - Foto: PIC
Wer Schulschließungen verhindern will, muss auch Jugendliche impfen, fordern Experten seit Wochen. – Foto: PIC

Bei der Stiko heißt es nun ebenfalls, man habe seine Risikoeinschätzung für Kinder und Jugendliche angesichts der Delta-Variante geändert: „Aktuelle mathematische Modellierungen“, die auch die nun dominierende Delta-Variante einbezögen, hätten ergeben, „dass für Kinder und Jugendliche ein deutlich höheres Risiko für eine SARS-CoV-2-Infektion in einer möglichen vierten Infektionswelle besteht“, räumte die Stiko nun ein.  Unsicher bleibe dabei, „ob und wie häufig Long-COVID bei Kindern und Jugendlichen auftritt“ – es ist das erste Mal, dass die Stiko ein solches Risiko überhaupt einräumt und benennt.

Und auch die bei jungen Männern beobachteten Herzmuskelentzündungen nach einer Corona-Impfung bezeichnet die Stiko nun auf einmal als „sehr selten“ und als nicht Besorgnis erregend: In der Mehrzahl der Fälle seien die Patienten mit diesen Herzmuskelentzündungen zwar ins Krankenhaus gekommen, doch unter der entsprechenden medizinischen Versorgung habe es jeweils „einen unkomplizierten Verlauf“ gegeben. Neuere Untersuchungen aus dem Ausland wiesen zudem auch darauf hin, „dass Herzbeteiligungen durchaus auch bei COVID-19-Erkrankungen auftreten“, heißt es jetzt bei der Stiko. Es ist zudem nicht das erste Mal, dass die Stiko mit plötzlichen Richtungswechseln für Verunsicherung sorgt: Auch bei der Einschätzung des AstraZeneca-Impfstoffes hatte die Stiko mit wechselnden Empfehlungen das Vertrauen in den Impfstoff erheblich erschüttert.

Die Landesschülervertretung fordert freiwillige Impfaktionen an den Schulen nach den Sommerferien. - Foto: gik
Die Landesschülervertretung fordert freiwillige Impfaktionen an den Schulen nach den Sommerferien. – Foto: gik

Beim rheinland-pfälzischen Gesundheitsministerium äußerte man sich am Montagabend noch zurückhaltend zur neuen Stiko-Empfehlung. Die aktuelle Empfehlung sei gerade erst „in ein Stellungnahmeverfahren gegangen“, sagte eine Sprecherin auf Mainz&-Anfrage. Bis die neue Empfehlung final abgestimmt sei, halte sich Rheinland-Pfalz hinsichtlich der Impfung bei Kindern und Jugendlichen weiter an das bisherige beschriebene Verfahren: Danach können sich Kinder und Jugendliche ab 12 Jahren seit Anfang August außer bei niedergelassenen Ärzten auch in den Impfzentren des Landes sowie neuerdings in den Impfbussen nach einem ärztlichem Aufklärungsgespräch mit den Eltern gemeinsam impfen lassen.

Die Landesschülervertretung Rheinland-Pfalz (LSV) begrüßte die Entscheidung der Stiko ausdrücklich: Damit habe man „nun auch endgültig wissenschaftlich bestätigt eine weitere Säule, die den Unterricht für alle sicherer macht und Schulschließungen aktiv verhindert“, sagte LSV-Vorstandsmitglied Yannick Becker, und forderte: Nun müsse auch „gehandelt werden, und die Impfangebote für Kindern und Jugendliche massiv gefördert werden.“ Spätestens jetzt sei klar: „Wir brauchen landesweite Impfaktionen an Schulen“, forderte Vorstandsmitglied Colin Haubrich: Die Infrastruktur an den Schulen könne und müsse nach den Sommerferien für freiwillige Impfaktionen genutzt werden.

Info& auf Mainz&: Die genaue Stellungnahmen der Stiko findet Ihr hier im Internet. Mehr zur ersten Empfehlung der Stiko zu Impfungen bei Kindern und Jugendlichen sowie der Kritik daran könnt Ihr hier bei Mainz& noch einmal nachlesen. Mehr zu Corona-Impfungen für alle seit Anfang August lest Ihr hier bei Mainz&, wie die neuen mRNA-Corona-Impfstoffe wirken, könnt Ihr hier bei Mainz& in unserem Artikel über den Corona-Impf-Comic der Mainzer Universitätsmedizin nachlesen.

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