Der Streit um Präsenzunterricht in den Schulen geht weiter, Rheinland-Pfalz will ab dem 1. Februar Grundschulen wieder öffnen und die Klassen 1 bis 4 im Wechselunterricht zurück in die Schulen holen – das stößt auf scharfe Kritik. Die Sorgen werden befördert durch die neue Virusmutante B1.1.7. des Coronavirus: Baden-Württemberg vertagte am Mittwoch die Entscheidung über Schulöffnungen kommende Woche, nachdem ein massiver Corona-Ausbruch in einer Kita in Freiburg gemeldet wurde – durch die neue Virusmutation. Inwieweit B1.1.7. in Rheinland-Pfalz verbreitet ist, ist derweil noch immer unklar. Das Ingelheimer Labor Bioscientia soll nun bei der Jagd nach den Virus-Mutanten helfen.
Am 19. Januar hatte Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) nach einer Konferenz mit den Ministerpräsidenten noch verkündet: Schulen und Kitas bleiben bis zum 15. Februar geschlossen. Noch während die Pressekonferenz der Kanzlerin lief, trat indes Baden-Württembergs Ministerpräsident Winfried Kretschmann (Grüne) vor die Presse und kündigte an, Baden-Württemberg werde die Grundschulen zum 1. Februar wieder öffnen – er war nicht der einzige: Einen Tag später kündigte Ministerpräsidentin Malu Dreyer (SPD) Gleiches für Rheinland-Pfalz an.
Die Schulen sollten zwar im Prinzip bis zum 15. Februar im Fernunterricht bleiben – doch das soll nicht für die Grundschulen gelten: „Den Eltern der Kleinsten kann ich sagen: Für die Klassen 1 bis 4 werden wir ab 1. Februar Wechselunterricht anbieten“, kündigte Dreyer an. Die Schüler der Grundschulen sollten dann in geteilten Klassen im Wechselunterricht in ihre Schulen zurückkehren, „weil sie besondere Anleitung und Unterstützung brauchen“, betonte Dreyer. Die Präsenzpflicht bleibe aber aufgehoben. Rheinland-Pfalz will dann ab dem 15. Februar auch die Klassenstufen 5 bis 13 in den Wechselunterricht starten lassen, sofern es die Inzidenzen dann hergeben. Auch Abschlussklassen sollen dann die Möglichkeit haben, „unter Einhaltung strenger Hygieneregeln, auch wieder in Präsenz in die Schule zu kommen, um sich auf anstehende Prüfungen vorzubereiten“, sagte Bildungsministerin Stefanie Hubig (SPD).
Scharfe Kritik am „Sonderweg“ von Rheinland-Pfalz
Doch die Pläne der Landesregierung sind durchaus umstritten: Rheinland-Pfalz gehe erneut „einen Sonderweg“ und handele damit gegen den gemeinschaftlich von Bund und Ländern getroffenen Beschluss, schimpfte Lars Lamowski, Landesvize des Verbands Bildung und Erziehung (VBE). Der Präsenzunterricht sei wichtig. Doch auch in Kleingruppen sei er erst dann wieder möglich, „wenn die Schulen den maximalen Gesundheitsschutz für alle Beteiligten gewährleisten können“, betonte Lamowski – das werde aber „seit Monaten sträflichst vernachlässigt.“ Es mangele noch immer an ausreichenden FFP2-Masken, an Lüftungsanlagen und an Möglichkeiten zum Test von Lehrkräften.
Im Netz sorgte die Ankündigung des Landes für entsetzte Reaktionen – erst Recht, als die Landesregierung auf ihrer Facebookseite den Mainzer Kinderarzt Fred Zepp mit dem Satz zitierte: „Ich freue mich, dass Rheinland-Pfalz einen abgestuften Weg geht und mit Augenmaß die Vorschläge für den Lockdown umsetzt.“ Die Gesundheit von Kindern, Lehrern und ihren Angehörigen sei dem Land offenbar egal, schimpften zahlreiche Kommentatoren, die Öffnung der Schulen sei „verantwortungslos“, die Politik lebe „in einer Parallelwelt“. Überall sollten die Kontakte massiv eingeschränkt werden, aber die Kinder schicke man wieder in die Schulen – das passe doch nicht zusammen, kritisierten viele, darunter auch Lehrer und Erzieherinnen.
Shitstorm gegen Dreyer wegen „ängstlichen“ Eltern
Die Empörung wurde dann am Sonntagabend zum veritablen Shitstorm, als Dreyer in der Talkshow „Anne Will“ auf das Aussetzen der Präsenzpflicht verwies und dies mit dem Satz flankierte: „Eltern können Kinder zu Hause lassen wenn sie ängstlich sind“ – die Staatskanzlei widersprach diesem Zitat bisher nicht. Viele Eltern reagierten fassungslos: „Das ist ein Abwälzen von Verantwortung und eine Verharmlosung dieser Pandemie“, schimpfte ein Twitter-Nutzer. Eltern, die ihre Kinder schützen wollten, als „ängstlich“ hinzustellen, sei eine „Unverschämtheit“ und eine Diskreditierung: „Diese Bezeichnung für unseren Überlebenswunsch betrachte ich als unverschämt“, schäumte ein Twitter-Nutzer, und ein anderer schrieb: „Ich bin wirklich geschockt, das ist ein Schlag ins Gesicht aller Risikofamilien wie unserer.“
Auch der Philologenverband kritisierte, die weiterhin zu hohen Infektionszahlen ließen keinen Spielraum für Öffnungen. „Wenn wir jetzt zu früh lockern, könnten wir in einen Schlingerkurs hineingeraten und den nächsten Lockdown provozieren“, warnte Landeschefin Cornelia Schwartz. Die CDU-Opposition forderte am Dienstag, die Schulen erst wieder zu öffnen, wenn die Sieben-Tages-Inzidenz unter 50 gefallen sei – so sah es auch ursprünglich das Robert-Koch-Institut vor. „Gerade zum jetzigen Zeitpunkt ist eine Rückkehr in die Schulen verantwortungslos“, schimpfte auch Lamowski – schließlich sei noch überhaupt nicht sicher, wie sich die Virus-Mutationen aus Großbritannien und Südafrika auswirkten. Tatsächlich gibt es inzwischen wissenschaftliche Hinweise, dass die neuen Mutationen nicht nur deutlich ansteckender sind, sondern sich gerade auch unter Kindern und Jugendlichen wesentlich mehr ausbreiten als die bisherige „Wildvariante.“
Virus-Mutante B.1.17.vielfach nachgewiesen
Das nährt die Angst vor einer „dritten Welle“, wie sie seit Weihnachten den gesamten Süden Englands lahmlegte. Besonders die neue Mutante B1.1.7. bereitet den Experten Sorgen, sie wurde bereits mehrfach in Deutschland nachgewiesen: Eindeutige Nachweise der beiden Mutanten aus Großbritannien und Südafrika gebe es bereits in 30 Städten oder Gemeinden in Deutschland, schreibt der Tagesspiegel: Neben dem großen Ausbruch in Berlin, sei B1.1.7. bereits in 37 Fällen in Nordrhein-Westfalen in zehn Städten oder Landkreisen nachgewiesen worden. In Hessen seien bislang sechs Fälle bekannt, ebenso viele in Schleswig-Holstein und in Niedersachsen vier – schreibt die Zeitung in einer hervorragenden Übersicht, die Ihr hier im Netz findet.
In Rheinland-Pfalz seien hingegen bisher keine Nachweise der neuen Mutationen bekannt, sagte Gesundheitsministerin Sabine Bätzing-Lichtenthäler (SPD) am Mittwoch in Mainz – dass die Mutation einen Bogen um Rheinland-Pfalz gemacht hat, ist hingegen unwahrscheinlich: Bisher wurden hiesige Corona-Proben schlicht viel zu wenig auf die Variationen untersucht, auch weil Laborkapazitäten dafür fehlten. Das aber ändert sich gerade: Das Ingelheimer Labor Bioscientia soll nun im Auftrag des Bundes bei der Jagd nach den Mutationen helfen.
Labor Bioscientia soll Virus-Mutationen entdecken helfen
Bioscientia habe vergangene Woche die Sequenzierung gestartet, sagte Unternehmenssprecher Hendrik Borucki im Gespräch mit Mainz&: „Wir sind ohnehin das größte Labor in Rheinland-Pfalz, wir haben die Geräte, die Leute, das Knowhow, und die Bio-Informatik.“ Bei Bioscientia werde schon seit Jahren menschliche DNA sequenziert, in aller Regel zur Tumordiagnostik. Nun habe das Labor die Prozesse geändert und eine Virus-Genom-Sequenzierung aufgebaut – vergangene Woche startete Bundesgesundheitsminister Jens Spahn (CDU) eine bundesweite Kampagne zur Untersuchung von Corona-Proben auf die neuen Virus-Mutationen.
Bei der sogenannten Sequenzierung wird dabei die gesamte DNA des Virus auf Veränderungen untersucht, der Vorgang sei ausgesprochen aufwändig, erklärte Borucki: So müssten die Proben erst einmal vorbereitet werden, für 100 Proben bräuchten die Laborexperten etwa einen Tag. Danach würden die Proben knapp 30 Stunden in einem Spezialgerät untersucht, so könne jeder Baustein des Virus erkannt werden. „Das ist unheimlich aufwändig, so eine Untersuchung baut man nicht von einem Tag auf den anderen auf“, betonte Borucki: „Zum Glück haben wir in Deutschland die Strukturen, so etwas binnen vier Wochen einzuführen.“
Bundesweit sollen nun laut Vorgabe des Bundes etwa fünf Prozent aller positiven PCR-Tests standardmäßig auf die Corona-Mutationen untersucht werden, um die Verbreitung der Varianten aufdecken zu können. Für Bioscientia bedeute das derzeit rund 1.200 Proben pro Woche, sagte Borucki, die Ergebnisse würden an das Robert-Koch-Institut übermittelt. In den bisher analysierten Proben seien auch bereits die neuen Mutanten gefunden worden, bestätigte Borucki – woher die aber stammten, sei noch nicht bekannt: Bioscientia bekommt Proben aus dem ganzen Bundesgebiet.
Baden-Württemberg stoppt Pläne für Schulöffnungen
Dazu gebe es inzwischen aber auch eine schnellere Methode zur Erkennung der Mutationen, erläuterte Borucki weiter: Mit derselben PCR-Testmethode könnten auch die neuen Mutationen erkannt werden, das gelte derzeit für die drei besonders verdächtigen Mutationen aus Großbritannien, Südafrika und Brasilien. Die Ergebnisse bei dieser Methode könnten binnen vier Stunden da sein, sagte Borucki weiter: „Für den schnellen Blick ist die PCR-Variante besser geeignet.“
Welche Überraschungen die bislang viel zu geringen Untersuchungen bergen können, musste am Mittwoch Baden-Württembergs Ministerpräsident erfahren: Noch am Dienstagabend hatte Kretschmann in der Talkshow „Lanz“ die Öffnung der Grundschulen kommende Woche vehement verteidigt – am Mittwochmittag musste er eine zu dem Thema geplante Pressekonferenz kurzfristig absagen. In einer Freiburger Kita war am Mittwoch eine Infektionswelle festgestellt worden – in zwei Fällen wurde eine der neuen Corona-Mutanten nachgewiesen. 21 weitere Infektionsfälle würden nun untersucht, berichtet der SWR. Die Entscheidung zur Öffnung der Grundschulen wurde vertagt – sie dürfte nun auf der Kippe stehen.
Info& auf Mainz&: Mehr zu den neuen Mutationen des Coronavirus lest Ihr hier bei Mainz&, eine Übersicht über die bisher aufgetretenen Fälle in Deutschland findet Ihr hier beim Berliner Tagesspiegel. Mehr zum Streit um die Rolle der Schulen als „Pandemietreiber“ in der Corona-Pandemie, zu Dunkelziffern und was Experten dazu sagen, lest Ihr ausführlich hier bei Mainz&.