Was wusste Innenminister Roger Lewentz (SPD) in der Flutnacht des 14. Juli 2021 über die Lage im Ahrtal? Die Frage wird entscheidend für die Zukunft des Innenministers, am Freitag will die Opposition im Untersuchungsausschuss des Landtags zur Flutkatstrophe den Minister zu genau dieser Frage stellen. Denn längst ist die Version, die Lewentz kurz nach der Flutnacht auftischte, nicht mehr haltbar: Er habe erst am nächsten Morgen die Dimension der Katastrophe erfahren. Eine ganze Reihe von Zeugenaussagen stehen dem inzwischen entgegen – die Opposition sieht einen zwingenden Rücktritt heraufziehen.

Innenminister Roger Lewentz (SPD) bei seiner ersten Vernehmung vor dem Untersuchungsausschuss zur Flutkatastrophe im Ahrtal im April 2022. - Foto: gik
Innenminister Roger Lewentz (SPD) bei seiner ersten Vernehmung vor dem Untersuchungsausschuss zur Flutkatastrophe im Ahrtal im April 2022. – Foto: gik

Es war um kurz vor 18.00 Uhr, als Innenminister Roger Lewentz (SPD) am Rande des Landtagsplenums in Mainz eine alarmierende Nachricht bekam: Im oberen Bereich der Ahr stehe in Dorsel ein Campingplatz unter Wasser, Menschen seien auf die Dächer ihrer Campingwagen geflüchtet – es brauche Hubschrauber zur Rettung aus der Luft. Es war der 14. Juli 2021, und während der Landtag in Mainz tagte – und unter anderem über Hochwasservorsorge beriet – baute sich im Ahrtal eine Flutwelle ungeahnten Ausmaßes auf.

Der Innenminister wird um 17.48 Uhr telefonisch vom Präsidenten der Aufsichts- und Dienstleistungsdirektion ADD, Thomas Linnertz, von dem überfluteten Campingplatz Stahlhütte informiert. „Das hat mich sehr erinnert an Bilder von 2016, bei einem vergleichbaren Ereignis an einem Campingplatz in Altenahr“, so schildert es Lewentz bei seiner ersten Vernehmung im Untersuchungsausschuss zur Aufklärung der Flutkatastrophe im Ahrtal Anfang April.

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Der Minister will eigentlich ins Einsatzgebiet fahren, doch er kommt schon nicht mehr dorthin. Stattdessen fährt Lewentz in die technische Einsatzzentrale nach Ahrweiler, dort macht er zwischen 19.20 Uhr und 19.30 Uhr ein Foto mit dem damaligen Landrat Jürgen Pföhler (CDU). Von einer Katastrophe, gar einer Flutwelle, sei da überhaupt nichts zu bemerken gewesen, beteuert Lewentz später – der Minister fährt nach Hause nach Kamp-Bornhofen, telefoniert und chattet noch ein wenig, und geht zu Bett. “Es gab kein Szenario einer Flut oder Sturzflut“, beteuerte Lewentz danach stets, von den Verwüstungen im Ahrtal habe er erst am folgenden Morgen erfahren – so sagt er es im August 2021 vor Journalisten in Mainz.

Innenminister Roger Lewentz (SPD, 2. von links) bei seinem Besuch in der technischen Einsatzzentrale in Ahrweiler. - Foto: Kreisverwaltung Ahrweiler,
Innenminister Roger Lewentz (SPD, 2. von links) bei seinem Besuch in der technischen Einsatzzentrale in Ahrweiler. – Foto: Kreisverwaltung Ahrweiler,

Die Version des Ministers ist schon lange nicht mehr zu halten, nach fast einem Jahr hat der Untersuchungsausschuss im Mainzer Landtag in mühevoller Kleinarbeit ein völlig anderes Bild der Flutnacht herausgearbeitet. Danach steht fest: Die Landesregierung wusste wesentlich früher in der Flutnacht, was sich im Ahrtal abspielte. Es gab Berichte von einer Flutwelle, die durch das Tal raste, von weggerissenen Häusern, von Vermissten und Toten – und von Menschen im Stockdunkeln auf Dächern in Not. Sogar Fotos von bis zur Dachkante unter Wasser stehenden Häusern gab es – und sie erreichten auch Innenminister Lewentz.

Doch was tat der oberste Katastrophenschützer des Landes eigentlich in der Flutnacht? Die Landesregierung habe „gewartet, bis es zu spät ist“, kritisierte nun die CDU-Opposition – und spricht von einem völligen „politischen Führungs- und Kommunikationsversagen der Landesregierung.“ Während in Luxemburg noch in der Nacht der Krisenstab der Landesregierung zusammentrat, und sich in Nordrhein-Westfalen der Innenminister umgehend auf den Weg zu seinem Krisenstab machte – Herbert Reul (CDU) musste dafür seinen Urlaub abbrechen -, habe man in Rheinland-Pfalz „ein Bierchen getrunken und sich ins Bett gelegt“, schimpfte CDU-Obmann Dirk Herber schon vor Wochen.

 

„Lewentz hat in seinem Amt versagt“

„Die CDU-Fraktion wirft Innenminister Lewentz schwere Versäumnisse vor, er hat in seinem Amt versagt“, betonte nun CDU-Fraktionschef Christian Baldauf am Mittwoch in Mainz – zwei Tage, bevor Lewentz erneut vor dem Untersuchungsausschuss Rede und Antwort stehen muss. Der Innenminister habe „sämtliche Hinweise auf die Katastrophe am frühen Abend ignoriert“, klare Informationen als „nicht belastbar“ abgewertet, klagte Baldauf: „Angeblich fehlte Lewentz ein belastbares Lagebild, deshalb sah er keine Veranlassung zu handeln.“

Wirft Innenminister Roger Lewentz (SPD) schwere Versäumnisse in der Flutnacht vor: CDU-Landeschef Christian Baldauf. - Foto: CDU RLP
Wirft Innenminister Roger Lewentz (SPD) schwere Versäumnisse in der Flutnacht vor: CDU-Landeschef Christian Baldauf. – Foto: CDU RLP

Die CDU sieht das inzwischen als Schutzbehauptung: Die Landesregierung habe frühzeitig so viele Hinweise auf eine Katastrophe gehabt, dass sie hätte handeln, Führung übernehmen müssen, argumentiert die Opposition. In so einer Nacht „gehört der Kapitän auf die Brücke“, hatte Baldauf schon vor Monaten betont, im Sommerinterview der Sat.1-Nachrichtensendung 17.30 sagte er: „Entweder Herr Lewentz hat nichts gewusst, dann wäre es schlimm, oder er hat alles gewusst und nichts getan – das wäre auch schlimm.“ Schon damals hatte der Oppositionschef gefordert, Lewentz sei im Amt nicht mehr zu halten – Ministerpräsidentin Malu Dreyer (SPD) hatte das umgehend brüsk zurückgewiesen.

Nun erneuerte Baldauf seine Vorwürfe: Lewentz habe sich bisher „als ein Innenminister präsentiert, der geradezu zur Untätigkeit verdammt war“, schimpfte er – das aber sei falsch. „Allerspätestens um 23.04 war er in Kenntnis der dramatischen Lage im Ahrtal“, betont Baldauf – womöglich aber habe der Minister schon vor 20.00 Uhr von der verschärfenden Lage und einem einstürzenden Haus in Schuld gewusst. Trotzdem habe Lewentz weder Ministerpräsidentin Malu Dreyer (SPD) gewarnt, noch die Führung übernommen: Kein Krisenstab, keine Krisenschalte, nicht einmal eine Lagebesprechung habe es von Seiten des Innenministers gegeben.

 

Tatsächlich liegen dem Untersuchungsausschuss inzwischen eine ganze Reihe von Zeugenaussagen vor, die belegen: Die Flutkatastrophe im Ahrtal machte viel früher und mit viel mehr Informationen die Runde durch die Ämter, als das bislang bekannt war. Ein neues hydrologisches Gutachten für die Staatsanwaltschaft Koblenz belegte gerade erst: Auch die Höhe der Flutwelle war frühzeitig absehbar. Spätestens ab 14.22 Uhr hätten die prognostizierten Pegelstände am Tag des 14. Juli „gereicht, um von einem Hochwasser größer als 2016 auszugehen” – so schreibt es die Staatsanwaltschaft in ihrer jüngsten Pressemitteilung.

In Schuld an der oberen Ahr stürzten bereits zwischen 19.00 Uhr und 20.00 Uhr mehrere Häuser ein, weggerissen von der Flutwelle. - Screenshot: gik
In Schuld an der oberen Ahr stürzten bereits zwischen 19.00 Uhr und 20.00 Uhr mehrere Häuser ein, weggerissen von der Flutwelle. – Screenshot: gik

Das Ausmaß der kommenden Katastrophe hätte ab 20.20 Uhr erkannt werden können, bilanziert die Staatsanwaltschaft auf Basis des Gutachtens weiter, der Zeitpunkt ist durchaus brisant: Um 19.20 Uhr trifft Innenminister Lewentz am Abend des 14. Juli in der Technischen Einsatzleitung in Ahrweiler ein. Hier tagt seit etwa 17.00 Uhr der Krisenstab des Landkreises, hier laufen die Informationen aus allen Teilen des Ahrtals zusammen – eigentlich.

Was genau der Krisenstab in der Nacht erfuhr, ist bis heute ein Rätsel. Die Vernehmungen im Untersuchungsausschuss ergaben das Bild eines völlig überforderten Gremiums von zumeist ehrenamtlichen Feuerwehr- und Rettungskräften, die sich kaum untereinander kannten und noch nie in dieser Form zusammengearbeitet hatten. Der Einsatzstab saß in einem Kellerraum neben der Tiefgarage, der Handyempfang war stark eingeschränkt, der Informationsfluss aus dem Tal offenbar auch. Die Dramatik der Lage habe man hier überhaupt nicht mitbekommen, behaupteten diverse Zeugen.

 

Als Lewentz in Ahrweiler um 19.20 Uhr ankommt, weiß er bereits von dem überfluteten Campingplatz in Dorsel. Lewentz weiß auch, dass die ADD versucht, Hubschrauber zur Luftrettung zu organisieren – Rheinland-Pfalz besitzt selbst keinen Hubschrauber mit Seilwinde zur Rettung aus der Luft. Ein Hubschrauber der Kooperationspartner in Hessen wird bis 20.14 Uhr brauchen, bis er in Dorsel eintrifft. Um 19.20 Uhr bekommt Lewentz die Nachricht von Linnertz: Ein Hubschrauber ist im Anflug Richtung Ahrtal.

Hier im Funkerraum in der Einsatzleitung in Ahrweiler gingen die Notrufe ein - was davon erfuhr Innenminister Lewentz? - Foto: gik
Hier im Funkerraum in der Einsatzleitung in Ahrweiler gingen die Notrufe ein – was davon erfuhr Innenminister Lewentz? – Foto: gik

Doch was genau erfuhr der Minister eigentlich vom Krisenstab in der Einsatzleitung in Ahrweiler? Bis heute gibt es dazu keine öffentlichen Aussagen: Landrat Pföhler verweigerte jegliche Aussage vor dem Ausschuss, weil die Staatsanwaltschaft gegen ihn unter anderem  wegen fahrlässiger Tötung ermittelt, das gilt auch für den Leiter des Krisenstabs, Brand- und Katastrophenschutzinspekteur Michael Zimmerman. Lewentz selbst hat dazu bisher nur angegeben, er habe „einen konzentriert arbeitenden Krisenstab“ vorgefunden, von Überforderung oder gar einer Katastrophe sei nichts zu spüren gewesen.

CDU-Obmann Dirk Herber sprach am Mittwoch von einem „reinen PR-Besuch“ des Ministers, über den sich die Mitarbeiter des Krisenstabs selbst mokiert hätten. „Jetzt kommen die Touristen, die sich später in Funk und Fernsehen zeigen mögen“, habe das ein DRK-Mitarbeiter später genannt, sagte Herber: „Man hat uns das als unterstützenden Besuch des Ministers verkaufen wollen – es war alles andere als das.“

 

Erfuhr Lewentz in der Einsatzleitung womöglich doch Dramatisches aus der Lage im Ahrtal? Es war der Journalist Willi Willig, der bei seinen Vernehmungen vor dem Ausschuss Brisantes berichtete: Um 19.45 Uhr sei er mit seinem Wagen aus Richtung Bad Ems ins Ahrtal gefahren, als sein mitfahrender Sohn auf der Gegenspur der Autobahn auf einmal Lewentz Limousine erkannte. Willi Willig, der eigentlich mit Vorname Markus heißt, ist ein erfahrener Journalist: Seit 20 Jahren arbeitet er unter anderem für TV Mittelrhein, aktuell ist er Chefredakteur beim Nachrichtenportal 56aktuell.de.

Willi Willig: Lewentz berichtete von eingestürztem Haus in Schuld

Will vor 20.00 Uhr von Lewentz von einem eingestürzten Haus in Schuld erfahren haben: Journalist Willi Willig. - Foto: gik
Will vor 20.00 Uhr von Lewentz von einem eingestürzten Haus in Schuld erfahren haben: Journalist Willi Willig. – Foto: gik

Innenminister Lewentz kennt Willig von zahlreichen Terminen gut, er besitzt die persönliche Handynummer des Ministers – und er ruft ihn an. Lewentz habe ihm dann gesagt, die Lage im Ahrtal sei „katastrophal und wirklich schlimm“, sagt Willig vor dem Untersuchungsausschuss aus – damit hätte Lewentz bereits vor 19.45 Uhr von dieser katastrophalen Lage erfahren haben müssen. Lewentz habe ihm vom überspülten Campingplatz in Dorsel berichtet – und von katastrophalen Verhältnissen in Schuld: „Er hat mir unter anderem von einem eingestürzten Haus in Schuld berichtet“, behauptet Willig.

Am 08. September tritt Willig zum zweiten Mal vor den Untersuchungsausschuss, angeblich um genau diese Aussage zu korrigieren. Wie der zweite Auftritt zustande kommt, bleibt mysteriös: Willig behauptet, er habe nie um ein zweite Aussagemöglichkeit gebeten, doch genau so berichteten es Anfang September mehrere Medien – unter Berufung auf Innenministerium und Untersuchungsausschuss: Willig habe sich gemeldet, „um Teile seiner Aussagen vom Freitag vor einer Woche klarzustellen, weil diese missverständlich wiedergegeben worden seien“, zitierte etwa der SWR den Ausschussvorsitzenden Martin Haller (SPD).

 

Haller hat inzwischen klargestellt: Diese Darstellung ist falsch. Der Ausschuss sei selbst „auf der Grundlage vorliegender Unterlagen“ zu dem Ergebnis gekommen, „dass eine erneute Vernehmung sinnhaft ist“ und „eine Aussage Willigs mit Klarstellung gewünscht ist“ – so sagt es Haller nach Willigs zweiter Vernehmung am 8. September ausdrücklich. Welche Unterlagen das waren, sagt Haller nicht, die Berichterstattung in der Presse sei dabei aber „nicht ausschlaggebend gewesen.“

Video von Willi Willig am Abend des 14. Juli 2022 aus Rech: Der Wohnwagen wird kurz darauf in Sekundenbruchteilen durch die Brücke gedrückt. - Screenshot: gik
Video von Willi Willig am Abend des 14. Juli 2022 aus Rech: Der Wohnwagen wird kurz darauf in Sekundenbruchteilen durch die Brücke gedrückt. – Screenshot: gik

Doch alle bohrenden Fragen in der Ausschusssitzung nützen nichts, Willig bleibt eisern bei seiner Aussage: Ja, Lewentz habe mit ihm über Schuld gesprochen, und ja, es sei dabei „um ein eingestürztes Haus, ein beschädigtes Haus, ein weggespültes Haus“ gegangen. Willig behauptet, die Information sei ihm „nicht wichtig gewesen“, der Journalist kommt an diesem Tag bis Rech, von dort dreht er beeindruckende Live-Videos über die sich aufbauende Flut an der Ahr – darunter auch das Video eines Campingwagens, der durch die Nepomukbrücke in Rech gedrückt wird. Von einem eingestürzten Haus in Schuld berichtet er darin nicht.

Die Nachricht ist indes hochgradig brisant: Den Einsturz eines Hauses, verursacht durch eine reißende Flutwelle – so etwas gab es bei allen Hochwassern in Rheinland-Pfalz in den vergangenen Jahrzehnten nicht. Die Staatsanwaltschaft Koblenz nimmt genau diesen Vorfall sogar als markanten Scheidepunkt, an dem sich der Unterschied zum Hochwasser von 2016 festmacht: Eine Einsturzgefahr von Häusern habe 2016 nicht bestanden, an so einem Vorfall hätten 2021 die Behörden das ungeheure Ausmaß der sich anbahnenden Katastrophe zumindest hätten erahnen können.

 

In Schuld werden in jener Nacht gleich sechs Häuser von den Fluten weggerissen, der Bürgermeister des Ortes, Helmut Lussi, muss auf einer Anhöhe über dem Ort mit ansehen, wie das erste, dann das zweite Haus in den Fluten versinkt. Im Untersuchungsausschuss hatte Lussi noch gesagt, er könne sich an den genauen Zeitpunkt nicht mehr erinnern – es sei wohl irgendwann zwischen 19.00 Uhr und 20.00 Uhr gewesen. Im Gespräch mit Mainz& sagte Lussi nun: „Das war um 19.30 Uhr herum“, das habe ihm eine Nachbarin inzwischen so berichtet.

21.00 Uhr PI Adenau: In Schuld wurden Häuser weggerissen

Schuld Ende Juli 2021: Von dieser Anhöhe aus sieht Bürgermeister Lussi, wie die Flut Häuser wegreißt. - Foto: gik
Schuld Ende Juli 2021: Von dieser Anhöhe aus sieht Bürgermeister Lussi, wie die Flut Häuser wegreißt. – Foto: gik

Konnte der Innenminister also bereits zwischen 19.45 Uhr und 20.00 Uhr davon erfahren haben? „Spätestens um 21.27 Uhr, also gegen halb zehn, wusste man von eingestürzten Häusern in Schuld“, betonte nun CDU-Ausschussmitglied Markus Klein. Bereits ab 21.00 Uhr sei unterschiedlichen Stellen bekannt gewesen, dass in Schuld mehrere Häuser eingestürzt seien, diese Information liege dem Einsatzstab in Ahrweiler vor, genauso aber auch der Polizei: Heiko Schmitz, Leiter der Polizeiinspektion Adenau, sei gegen 21.00 Uhr „von einer Polizeistreife fassungslos unterrichtet worden, dass ‚da ganze Häuser weggeschwommen‘ seien“ – so berichtet es Klein.

Diese Meldung habe zeitnah auch das Lagezentrum des Polizeipräsidiums Koblenz erreicht – und sei von dort auch an das Lagezentrum des Innenministeriums gegangen. In Koblenz tritt in der Flutnacht Marita Simon als leitende Polizeiführerin um kurz vor 22.00 Uhr ihren Dienst an. Die Leitstelle in Koblenz wird bereits seit dem späten Nachmittag von Notrufen aus dem Ahrtal regelrecht überrannt – mehr als 5.100 werden bis zum Ende der Nacht gewesen sein.

 

Die Beamten an den Telefonen sind um 22.00 Uhr bereits völlig am Ende mit ihren Nerven, weil sie panische Anrufer in Lebensgefahr an ihren Telefonen vertrösten müssen – und ihnen nicht  helfen können. Bereits am Nachmittag fordert die Leitung den psychologischen Dienst zur Unterstützung an. „Ich habe Menschen gesehen, die mit Weinkrämpfen vor dem Bildschirm zusammengebrochen sind und von Kollegen weggeführt wurden“, berichtet Markus Obel, Branddirektor der Koblenzer Feuerwehr, dem Untersuchungsausschuss im Mai. Auch er selbst ist gegen 21.00 Uhr am Ende seiner Kräfte, bittet um Ablösung.

„Um 22.00 Uhr hatten wir eine Flutkatastrophe“

Die Integrierte Leitstelle in Koblenz wird in der Flutnacht von Notrufen überschwemmt. - Foto: Polizei Koblenz
Die Integrierte Leitstelle in Koblenz wird in der Flutnacht von Notrufen überschwemmt. – Foto: Polizei Koblenz

Erreichte von diesen dramatischen Zuständen denn nichts das Einsatzzentrum im Innenministerium? Doch, sagt Marita Simon: Sie habe in der Nacht „sehr oft“ mit dem Lagezentrum im Mainzer Innenministerium telefoniert, die Kollegen dort von der Lage im Ahrtal genau unterrichtet. Das Einsatzzentrum im Mainzer Innenministerium ist kein Krisenstab, dort halten regulär erst zwei Mann die Stellung, später werden es vier sein.

„Ich habe um 22.00 Uhr den Dienst begonnen, da hatten wir keine Hochwasserlage mehr, sondern eine Flutkatastrophe“, so schildert es Simon bei ihrer Vernehmung vor dem Untersuchungsausschuss im Juli mit klaren Worten. Markus Obel habe ihr klar gesagt, im Ahrtal sei „Land unter“, dazu bekommt Simon kurze Zeit später Bilder aus einem Hubschrauber zugeschickt. „Um kurz vor zehn Uhr war der Hubschrauber in der Luft über Schuld und hat die Aufnahme gemacht von Häusern, die nicht mehr zu sehen waren“, berichtet Simon: „Als ich die Fotos gesehen habe, war mir klar: Hier gibt es Verletzte und auch Tote.“

 

Um 22.30 Uhr ruft Simon im Lagezentrum im Innenministerium an und schildert die Lage in aller Klarheit: Im Ahrtal sei „Land unter“, bei der Einsatzzentrale in Koblenz gingen „Notrufe aus dem Ahrtal ohne Ende ein“. Sie berichtet, dass Menschen auf den Dächern ihrer Häuser stehen und mit Taschenlampen nach Hilfe rufen. Und sie berichtet, dass in Schuld sechs Häuser eingestürzt sind. Sie benutzt klar das Wort Katastrophe. „Wenn sechs Häuser weggerissen werden, und man mit toten Menschen rechnen muss, dann ist das ja schon eine Katastrophe“, sagt Simon. Und schließlich „hört die Ahr in Schuld ja nicht auf.“

Innenministerium wartete auf schriftlichen Lagebericht aus Koblenz

Erfuhr Innenminister Roger Lewentz /SPD) in der Flutnacht nichts von der dramatischen Lage im Ahrtal? - Foto: gik
Erfuhr Innenminister Roger Lewentz /SPD) in der Flutnacht nichts von der dramatischen Lage im Ahrtal? – Foto: gik

Das aber scheint sich den Beamten im Innenministerium nicht so richtig zu erschließen. Der diensthabende Gruppenleiter will nicht vor Mitternacht verstanden haben, dass sich im Ahrtal eine Katastrophe ungeahnten Ausmaßes abspielt – dabei ist er der Mann, mit dem Simon dauernd telefoniert. „Ich bin von einer Hochwasserlage ausgegangen, nicht von einer Katastrophe“, behauptet er fest. Vor dem Ausschuss gibt er an, es habe eine schriftliche Bestätigung gefehlt: Man habe Koblenz gebeten, alle halbe Stunde einen Lagebericht einzureichen, und zwar schriftlich – doch in Koblenz schütteln sie darüber nur den Kopf: Man habe anderes zu tun, als schriftliche Berichte zu verfassen.

In Mainz warten sie trotzdem weiter genau darauf. „Da stand ja auch für morgens ein Bericht für die Hausspitze aus“, berichtet der Beamte im Innenministerium – dabei hatte Innenminister Lewentz schon am Mittag sein Haus ausdrücklich gebeten, er wolle „engmaschig unterrichtet“ werden. Erfuhr der Minister also von den dramatischen Zuständen im Ahrtal, von Menschen auf Dächern, von Tausenden Notrufen nichts? Der Minister, der „engmaschig“ unterrichtet werden wollte – erfuhr er auch nichts von Vermissten und Toten?

 

Im Innenministerium erfahren sie spätestens gegen 22.30 Uhr, dass in Altenahr Menschen in Häusern ertrunken sein sollen. „Das war aber nicht bestätigt“, wehrt der Beamte ab – bei der CDU finden sie diese Darstellung höchst unglaubwürdig: Wieso brauche das Lagezentrum im Innenministerium überhaupt eine weitere Bestätigung, wo es doch die eigenen Polizeileute seien, von denen die Meldung komme? Es gebe doch wohl „kaum eine validere Quelle“, argumentiert Klein.

Wirft dem Innenminister Versagen in der Flutnacht vor: CDU-Obmann Dirk Herber. - Foto: gik
Wirft dem Innenminister Versagen in der Flutnacht vor: CDU-Obmann Dirk Herber. – Foto: gik

Trotzdem will man aus dem Lagezentrum die brisanten Informationen samt Fotos aus dem Hubschrauber vom überfluteten Tal erst um kurz vor 23.00 Uhr an das Büro des Innenministers weitergegeben haben. Lewentz Büroleiterin leitet die Informationen um 23.04 Uhr an Lewentz persönlich weiter, von den sechs eingestürzten Häusern in Schuld ist jetzt explizit die Rede. Das sei „der erste Hinweis darauf gewesen, dass es Schäden gibt, die über das normale Maß hinaus gehen”, behauptete Lewentz noch im April – ob das stimmt, ist eine der Fragen, die die CDU ihm am Freitag stellen will.

Um 23.46 Uhr bekommt Lewentz dann auch die Aufnahmen aus dem Polizeihubschrauber zugeschickt, seine Reaktion darauf schildert der Minister so: „Da war klar, es ist in Ahrweiler ein schweres Hochwasser eingetreten, aber eine Flutwelle ist nicht erkennbar gewesen.“ Spätestens jetzt hätte Lewentz Handeln müssen, sagt hingegen Herber: „Das Lagezentrum aufsuchen und Führung zu zeigen, das ist das, was wir uns von einem Innenminister wünschen.“

 

Der Krisenstab der ADD hätte „auf volle Funktion hochfahren müssen“, Lewentz aktiv bei der Bundeswehr um Unterstützung anfragen müssen, betont Herber. Erst um 0.40 Uhr versucht Lewentz, Ministerpräsidentin Dreyer zu erreichen, sein Anruf geht ins Leere. Um 0.58 Uhr schickt er eine SMS: „Liebe Malu, die Lage eskaliert“, heißt es darin: „In Schuld sind sechs Häuser eingestürzt, weitere Einstürze drohen, es kann/könnte Tote geben. Unsere Hubschrauber flogen darüber, sahen Taschenlampenzeichen, konnten aber nicht herunter gehen. Es gab wohl ganz traurige Szenen. (…) Ich versuche, jetzt die Bundeswehr zu erreichen.“

"Eine Flutwelle war nicht erkennbar": Überflutetes Ahrtal am Morgen des 15. Juli 2021. - Screenshot: gik
„Eine Flutwelle war nicht erkennbar“: Überflutetes Ahrtal am Morgen des 15. Juli 2021. – Screenshot: gik

Von einer klaren Fehleinschätzung der Lage spricht inzwischen die CDU – und von einem völligen Organisationsversagen. Angesichts der Informationen hätte der Minister viel früher Führung übernehmen müssen, denn die Koordinierungsstelle bei der ADD „genügte keinesfalls der Anforderung, eine Einsatzleitung landesweit zu übernehmen“, betonte Klein. Und auch zur Warnung der Bevölkerung hätte der Minister beitragen können, argumentiert die CDU: Das sogenannte, im Rundfunk-Staatsvertrag festgelegte „Drittsenderecht“ ermächtige Bundes-und Landesregierungen in Katastrophenfällen, Warnungen an die Öffentlichkeit unverzüglich über die öffentlich-rechtlichen Sender zu verkünden.

Am Freitag müsse sich Lewentz zu diesen Fragen erklären, forderte Baldauf nun, die Chance wolle man dem Minister schon noch geben. Eines sei aber auch klar: „Wenn das, was wir hier haben, stimmt“, sagte Baldauf, „dann muss Lewentz zurücktreten.“

Info& auf Mainz&: Mehr zu den bisherigen Aussagen von Innenminister Lewentz zur Flutnacht lest Ihr hier bei Mainz&, die Nacht aus der Sicht von Ministerpräsidentin Dreyer haben wir hier geschildert. Das Drama der Einsatzstelle in Koblenz könnt Ihr hier bei Mainz& nachlesen:

5100 Notrufe aus dem Ahrtal: “Menschen mit Weinkrämpfen vor den Bildschirmen” – Leitstelle Koblenz priorisierte Notrufe