Schlittert Deutschland gerade in eine vierte Welle der Corona-Pandemie? Der Chef des Robert-Koch-Instituts, Lothar Wieler, warnte am Freitag eindringlich vor der Ausbreitung der neuen Delta-Variante des Coronavirus. Die aus Indien stammende Virus-Mutante breitet sich derzeit in Großbritannien stark aus, doch Delta ist längst auch in Deutschland angekommen. In der Stadt Mainz gibt es derzeit neun bestätigte Fälle der Delta-Variante, teilte die Kreisverwaltung auf Mainz&-Anfrage mit. Im Landkreis Mainz-Bingen sind es aktuell zwölf Fälle, davon stünden sechs in Zusammenhang mit einer Kita. Experten warnen nun eindringlich: Deutschland treibe seine Öffnungsschritte direkt in die nächste Welle hinein – schon wieder.
Die stark sinkenden Corona-Inzidenzen haben zu einer wahren Lockerungs-Orgie in den Bundesländern geführt, in Rheinland-Pfalz gibt es nur noch wenige Einschränkungen, die Innengastronomie ist wieder geöffnet, selbst Privatfeiern sind mit bis zu 250 Personen wieder erlaubt. In Mainz schaffte die Stadt zu diesem Freitag die Maskenpflicht im Freien komplett ab, Ausnahmen gelten nur noch auf Märkten und an Bushaltestellen. Ab Montag wird in Rheinland-Pfalz sogar die Maskenpflicht im Unterricht gestrichen, und das trotz Präsenzunterricht und vollen Klassen.
Experten sehen das mit zunehmendem Unbehagen, der Chef des Robert-Koch-Instituts warnte am Freitag eindringlich: Auch in Deutschland breite sich die neue Delta-Variante zunehmend aus – Deutschland steht am Beginn einer vierten Welle. „Delta“ wurde zuerst in Indien nachgewiesen und sorgte dort für eine explosionsartige Verbreitung des Coronavirus, das Gesundheitssystem war wochenlang komplett überfordert. Delta gilt noch einmal als doppelt so ansteckend wie „Alpha“, die britische Variante, und auch Alpha war schon erheblich ansteckender als der Urtyp des Sars-CoV-2-Virus. Auch bei Alpha begann die erste Welle in Großbritannien, von dort breitete sich die Variante in Europa aus, unter anderem in Portugal – und löste eine massive dritte Corona-Welle im Frühjahr mit wochenlangen Lockdowns aus.
Heute ist B.1.1.7 (Alpha) mit einer Verbreitung von 86 Prozent die dominante Corona-Variante in Deutschland, berichtete das Robert-Koch-Institut (RKI) am Mittwoch. Das Gleiche könnte nun mit Delta geschehen: Großbritannien meldete am Donnerstag mit mehr als 11.000 Neuinfektionen an einem Tag die höchste Infektionsrate seit Februar. Die Sieben-Tages-Inzidenz, die noch Anfang Mai unter 20 gelegen hatte, schnellte auf deutlich mehr als 70 Neuinfektionen pro 100.000 Einwohner binnen sieben Tagen hoch, die britische Regierung sagte erhebliche Lockerungsschritte für Ende Juni erst einmal ab. Es sei „die als besonders ansteckend geltende Delta-Variante, die die Zahl der Neuinfektionen weiter deutlich in die Höhe treibt“, berichtete etwa die Tagesschau.
Am Freitag dann meldete Russland einen erheblichen Ausbruch von Corona-Neuinfektionen, und führte die neue Welle auf „Delta“ zurück – und Portugal riegelt für das kommenden Wochenende seine Hauptstadt Lissabon komplett ab: Wegen eines starken Anstiegs der Corona-Infektionen dürfen die Bewohner der portugiesischen Hauptstadt am Wochenende die Region nicht verlassen, meldete Spiegel Online. Auch eine Einreise sei in der Zeit von Freitag 15.00 Uhr bis 06.00 Uhr Samstag untersagt, der Grund: Delta.
Delta ist aber längst auch in Deutschland angekommen: Dem RKI zufolge liegt der Anteil der indischen variante an den Neuinfektionen in Deutschland derzeit bei 6,2 Prozent – doch genau dieser Anteil hat sich binnen einer Woche verdoppelt. „Die Pandemie ist eben nicht vorbei“, betonte Wieler am Freitag vor der Bundespressekonferenz in Berlin, das gelte sowohl für Deutschland als auch für die weltweite Ausbreitung. Wann genau die nächste Welle mit „Delta“ Fahrt aufnehme, lasse sich derzeit nicht genau sagen, und hänge eben auch davon ab, wie gut Deutschland Gegenmaßnahmen ergreife, betonte Wieler. Spätestens im Herbst aber werde Delta auch in Deutschland die dominierende Variante sein.
„Das Virus ist eben nicht verschwunden, und es wird auch nicht mehr verschwinden“, betonte der RKI-Chef, und mahnte eindringlich: „Lassen Sie uns die Erfolge nicht leichtfertig verspielen, lassen Sie uns die widergewonnene Freiheit erhalten.“ Nötig sei dafür das Vorantreiben der Impfkampagne, aber auch die Beibehaltung der Corona-Schutzmaßnahmen vor allem im Bereich Hygiene. „Lassen Sie uns die Masken auch bei niedrigen Fallzahlen beibehalten“, forderte Wieler, Öffnungen dürften nur „behutsam und kleinschrittig“ erfolgen.
Doch genau das Gegenteil geschieht derzeit: Die Bundesländer überbieten sich in Öffnungsschritten und in immer mehr Zusammenhängen fallen nun auch die Masken, dabei gelten genau sie als der effektivste Schutz zur Vorbeugung von Ansteckungen. Der SPD-Gesundheitsexperte Karl Lauterbach warnte deshalb gerade eindringlich davor, Maskenpflichten zu früh abzuschaffen – gerade mit Blick auf Schulen: „Insbesondere wenn die Schule voll betrieben wird, also voller Klassenraum, kein Wechselunterricht stattfindet, wird man ohne Maske nicht auskommen“, warnte Lauterbach in einem WDR-Interview: „Ich würde jetzt noch nicht auf die Maske im Klassenraum verzichten.“
Die Variante Delta breitet sich in Großbritannien gerade besonders stark in Schulen und Kitas aus, wieder einmal: Auch die „Alpha“ waren die ersten Ausbrüche von Kitas und Grundschulen ausgegangen und hatten von dort eine massive Welle in der gesamten Bevölkerung ausgelöst. „Das Tückische bei dieser Variante ist, dass Infizierte sehr schnell eine sehr hohe Viruslast im Rachen haben und damit andere anstecken können, bevor sie überhaupt merken, dass sie sich infiziert haben“, mahnte Weltärztebund-Präsident Frank Ulrich Montgomery im Interview mit der Funke Mediengruppe. Es sei zu erwarten, dass sich Delta noch schneller ausbreiten werde als die bisherigen Varianten. Auch Montgomery forderte, Maskenpflichten in Innenräumen unbedingt beizubehalten sowie zu prüfen, ob Lockerungen zu weit gingen und vielleicht wieder eingeschränkt werden müssten.
Die Entwicklung kommt ausgerechnet zu einem Zeitpunkt, an dem Deutschland erstmals nach dem wochenlangen Lockdown wieder aufatmet und lange vermisste Freiheiten wieder genießt. Doch mit den Freiheiten fällt offenbar auch die Vorsicht: In Biergärten sitzen Fußballfans dicht an dicht beim Public Viewing, Menschen aller Altersgruppen feiern in Gruppen, Masken werden nur noch nachlässig getragen. „Wir dürfen dem Virus keine Chance geben, sich erneut zu verbreiten“, fordert RKI-Chef Wieler – Gehör findet er so gut wie nicht.
Auch Delta breitet sich – wie schon Alpha – derzeit vor allem über Kitas und Schulen aus: Im baden-württembergischen Waiblingen musste eine Kita wegen eines Delta-Ausbruchs geschlossen werden, in Hamburg wurden Erstklässler einer Grundschule in Quarantäne geschickt, am Freitag schickte das Gesundheitsamt in Werl in NRW 123 Schüler der Abschlussklassen einer Sekundarschule in Quarantäne – wegen Verdacht auf Delta. In der Stadt Mainz meldete das Gesundheitsamt Mainz-Bingen bereits am 11. Juni zehn bestätigte Delta-Fälle, am 17. Juni ging man von neun Fällen der Delta-Variante aus. Im Landkreis Mainz-Bingen gibt es demnach aktuell zwölf Fälle, davon stünden sechs in Zusammenhang mit einer Kita, so das Gesundheitsamt ohne weitere konkrete Nennung der Orte.
Interessant dabei ist: Die Stadt Mainz hält mit einer Sieben-Tages-Inzidenz von derzeit 31 einen der Top-Werte in ganz Deutschland, Mitte der Woche wies Mainz die zehnthöchste Inzidenz in Deutschland auf, am Freitag war es Platz 14 mit einer Inzidenz von 25,6. Ob das an Delta liegt, kann man beim Gesundheitsamt Mainz-Bingen nicht sagen: Eine konkrete Erklärung dafür, dass die Inzidenz in Mainz deutlich langsamer sinke als in anderen Regionen, gebe es nicht, sagte ein Sprecher auf Mainz&-Anfrage. Es gebe keine bekannten Cluster, das Infektionsgeschehen sei nach wie vor diffus, häufig betroffen seien weiter große Familien.
„Auch die Virusmutationen spielen vermutlich eine Rolle, es gibt zunehmend Nachweise der Deltavariante“, sagte das Gesundheitsamt weiter. Wo diese Fälle herkämen, sei aber unklar – eine sogenannte „Reiseanamnese“, also das Einschleppen der Variante durch Riesende aus dem Ausland, gebe es nicht, teilte Gesundheitsamts-Leiter Dietmar Hoffmann mit.
Dass Deutschland nun schon zum zweiten Mal in eine sich aufbauende neue Infektionswelle hinein lockert, sehen Virologen und Epidemiologen mit Entsetzen: „Wir machen die gleichen Fehler noch einmal“, sagte Dirk Brockmann nun dem Spiegel, der Physiker modelliert für das RKI die Ausbreitung von Infektionskrankheiten. Deutschland habe derzeit eigentlich die besten Chancen, intelligente Öffnungsstrategien anzuwenden, die vorsichtig und schrittweise erfolgten, sagte Brockmann, und klagte: „Stattdessen wird jetzt wieder wild alles auf einmal gelockert.“
Auch die Virologin Melanie Brinkmann äußerte sich entsetzte: Statt mit Bedacht vorzugehen, handele die Politik ungeduldig und ohne Plan, kritisierte Brinkmann im Spiegel. Besonders das Weglassen der Masken im Unterricht sei ein Fehler, sagte sie: „Als ich das gehört habe, war ich erschüttert“, sagte die Virologin, „die Masken sind doch das geringste Übel.“ Kritik an dem Wegfall der Maskenpflicht kommt auch vom Philologenverband Rheinland-Pfalz: „Wir haben nach wie vor große Lerngruppen in engen Klassenzimmern, sehen uns aber einer sehr viel ansteckenderen Mutante gegenüber, der wir nicht die Chance zur Ausbreitung bieten dürfen“, warnte die Vorsitzende Cornelia Schwartz: Viele Fachleute rieten aktuell „angesichts der Lage in England dazu, die Masken in Innenräumen noch zu tragen.“
Die Deutsche Gesellschaft für Immunologie fordere angesichts der Lage, endlich Luftfilter für Kitas und Schulen anzuschaffen, berichtet das Internetmagazin News4Teachers – sonst drohe spätestens im Herbst eine vierte Corona-Welle. Auch der Philologenverband warnte, es gelte „unbedingt aus den Fehlern des Herbstes 2020 zu lernen“ – und schließlich seien zwar inzwischen die Lehrkräfte geimpft, nicht aber die Schüler selbst. Durch die Empfehlung der Ständigen Impfkommission (Stiko), nur Kinder mit Vorerkrankungen gegen das Coronavirus zu impfen, kommen Kinder und Jugendliche derzeit kaum an Corona-Impfungen – obwohl der Biontech-Impfstoff auch für Kinder ab 12 Jahren zugelassen ist und als sicher gilt.
Im Mainzer Bildungsministerium hält man trotzdem an der Lockerung der Maskenpflicht fest: Die Inzidenzen seien stark zurückgegangen, die Schüler würden zwei Mal pro Woche getestet und die Impfungen bei den Lehrkräften schritten zügig voran, betonte eine Sprecherin auf Mainz&-Anfrage. Die Maskenpflicht sei zudem nicht vollständig aufgehoben, sondern werde nur gelockert, das sei „auch mit Blick auf die rechtliche Verhältnismäßigkeit“ im Vergleich mit anderen gesellschaftlichen Bereichen geboten und zudem mit Experten der Mainzer Universitätsmedizin abgesprochen.
Die gute Nachricht bei all dem: Die Corona-Impfungen vor allem mit den mRNA-Impfstoffen von Biontech und Moderna wirken – und sie wirken auch gegen die neuen Virus-Mutanten wie Delta. Doch gerade gegen Delta wirkten die Impfstoffe erst so richtig nach der zweiten Impfung, heißt es beim RKI – wesentlich ist deshalb nun ein schneller Impferfolg. Doch die deutsche Impfkampagne wird weiter ausgebremst – im Juli stehen den Impfzentren und Ärzten deutlich weniger Impfstoffe vor allem von Biontech ins Haus. Am Freitag meldete das RKI zwar, die Hälfte der Deutschen sei inzwischen geimpft, das gilt aber „nur“ für die Erstimpfung: Einen vollen Impfschutz haben in Deutschland erst 29,6 Prozent.
Info& auf Mainz&: Mehr zu Infektionsausbrüchen mit der Delta-Variante in Bildungseinrichtungen bundesweit findet Ihr hier bei Spiegel Online. Mehr