Das Mainzer Innenministerium hatte die brisanten Polizei-Videos aus der Flutnacht im Ahrtal bereits seit dem 09. September 2022 vorliegen – also gut zwei Wochen vor der zweiten Befragung von Innenminister Roger Lewentz (SPD) im Untersuchungsausschuss des Mainzer Landtags. Das räumte nun das Innenministerium ein, beteuert zugleich aber weiter: Der Minister habe die Videos erstmals im U-Ausschuss gesehen. Allerdings war Lewentz wohl über ihren Inhalt voll informiert – der Krimi um die Lage-Videos vom 14. Juli 2021 geht weiter.
In Mainz läuft derzeit die Spurensuche auf Hochtouren, die brisante Frage: Wer wusste von der Existenz der dramatischen Videos, die ein Polizeihubschrauber in am Abend des 14. Juli 2021 im Ahrtal drehte – und dabei das ganze Ausmaß der Flutkatastrophe dokumentierte? Die Videos waren vor einer Woche völlig überraschend im Untersuchungsausschuss des Landtags präsentiert worden, Innenminister Lewentz behauptete dabei: Er habe von der Existenz der Videos nichts gewusst – und sie erstmals überhaupt in der Ausschusssitzung gesehen.
Die Aufnahmen wurden in der Flutnacht zwischen 22.14 Uhr und 6.00 Uhr morgens gefertigt, insgesamt existieren sieben Videos – zwei davon waren vergangenen Freitag den Mitgliedern des Aufklärungsgremiums unter Ausschluss der Öffentlichkeit gezeigt worden. Nach Mainz&-Informationen sollen sie dramatische Szenen von einem völlig überfluteten Ahr sowie von Menschen zeigen, die in der Flutnacht um ihr Leben kämpften, auf Häuserdächern ausharrten und mit Taschenlampen um Hilfe funkten. Auch abtreibende Autos sollen zu sehen sein, mindestens ein Video soll mit einer Wärmebildkamera aufgenommen worden sein.
Die im Ausschuss gezeigten Videos stammten aus der Zeit zwischen 22.20 Uhr und 22.42 Uhr, also zu einer Zeit, als die Orte an der unteren Ahr noch gar nicht von der Flutwelle erreicht worden waren: Laut einem hydrologischen Gutachten erreichte die gigantische und verheerende Flutwelle Bad Neuenahr-Ahrweiler erst nach 23.00 Uhr, die Stadt Sinzig sogar erst um 2.00 Uhr morgens. An der unteren Ahr starben in der Flutnacht von insgesamt 134 Menschen etwa 80, die drängende Frage lautet nun: Hätten diese Menschenleben gerettet werden können?
Innenminister Roger Lewentz (SPD) sowie Mitarbeiter des Lagenzentrums im Mainzer Innenministerium behaupten jedoch weiter, sie hätten in der Flutnacht nur „punktuelle Ereignisse“ mitgeteilt bekommen, eine vollständige Lageeinschätzung über das Ausmaß der Katastrophe habe man jedoch nicht gehabt. Die Videos belegen: Zumindest ein Teil der Polizei in Rheinland-Pfalz hatte sehr wohl einen Überblick darüber, wie dramatisch sich die Lage im Ahrtal entwickelte, und wie groß die Lebensgefahr tatsächlich war.
Die Koblenzer Polizeihauptkommissarin Marita Simon hatte bei ihrer Vernehmung vor dem Ausschuss betont, sie habe das Innenministerium im Detail über die Lage und ihre Dramatik informiert – die Videos aus dem Polizeihubscharuber aber wurden wegen technischer Schwierigkeiten in der Flutnacht wohl nicht mehr überspielt. Trotzdem stellt sich nun die drängende Frage: Warum wurde der Ausschuss nicht früher von der Existenz der Aufnahmen unterrichtet – wozu das Land und seine Dienststellen verpflichtet gewesen wären?
Von Seiten des Landes heißt es inzwischen, die man habe die Existenz der Videos nicht verheimlicht – die Videos hätten auf einer Liste mit vorhandenem Beweismaterial gestanden, die dem U-Ausschuss im Oktober 2021 zugeschickt worden sei. Tatsächlich existierte eine solche Liste, erstellt wurde sie vom Polizeipräsidium Einsatz, Logistik und Technik (PP ELT), zu der auch die Hubschrauberstaffel des der Polizei Rheinland-Pfalz gehört. Das PP ELT hatte diese Liste erstellt, weil man sich wegen der enormen Datenmenge außerstande sah, alle existierenden Daten auf einen Schlag dem U-Ausschuss zu übermitteln.
Das PP ELT habe deshalb vorgeschlagen, „sich bei einem vorhandenen ungefähren Gesamt-Datenvolumen von mehr als 10 Terabyte (TB) auf die Lieferung bestimmter Daten zu beschränken“, so stellt es nun das Mainzer Innenministerium dar. Zu diesem Zweck habe das Präsidium eine Liste mit „Einsatzdokumentationen“ vorgelegt, und diese „in einer Kurzbeschreibung wie folgt definiert“, wie das Innenministerium nun selbst mitteilte: „eps.web, VuEB EiVer, Durchführungspläne, Video (BeDo, PhuST…), Kommunikation u.ä.“ Der Untersuchungsausschuss habe sich daraufhin einverstanden mit dem Vorgehen erklärt, die Dokumentationen nicht gleich zu übermitteln, sondern für weitere Recherchen vorzuhalten.
Liste aus dem Oktober 2021 verzeichnet „Video“ – im Singular
Bemerkenswert daran sind gleich mehrere Dinge: In der Kurzbeschreibung ist das Wort „Video“ in der Einzahl angegeben, dass hier gleich mehrere Videos (plural) vorlagen, ist dem nicht zu entnehmen., Zudem spezifiziert die Liste nicht, wann die Einsatzvideos aufgenommen wurden – von der Flutnacht des 14. Juli 2021 ist schon gar nicht die Rede. Stattdessen werden die Urheber mit für Außenstehenden unverständlichen Kürzeln vermerkt – so steht etwa „PhuST“ für die Polizeihubschrauber-Staffel.
Offenbar gaben weder die Kürzel noch die Liste den ermittelnden Abgeordneten im Ausschuss einen Hinweis darauf, dass hier brisantes Videomaterial aus der Flutnacht vorlag. Erst Ende August 2022 stellte AfD-Obmann Michael Frisch eine dezidierte Anfrage nach weiterem Videomaterial – erst daraufhin wurden die Videos „entdeckt“ und in Richtung Mainz geschickt. Die sieben Videos allein können dabei keine ungebührlich große Datenmenge enthalten: Den Angaben zufolge passen sie auf einen gewöhnlichen USB-Stick.
Dieser USB-Stick kam zusammen mit weiteren Beweisunterlagen nach Angaben des Mainzer Innenministeriums am 9. September 2022 per Kurier in Mainz an – abgeschickt vom Polizeipräsidium Koblenz. „Die Lieferung beinhaltete einen USB-Stick sowie ein auf den 8. September datiertes (Begleit-) Schreiben“, teilte das Innenministerium mit, und betont weiter: „Bis zur Sichtung des übermittelten Video-Materials bestand für den Ressortbeauftragten keinerlei Anhaltspunkt dafür, dass sich auf dem USB-Stick Videos vom Abend des 14. Juli 2021 befinden könnten.“
Die Landesregierung und der im Innenministerium für das Ausschuss-Aktenmaterial zuständige Ressortbeauftragte habe „davon ausgehen müssen, dass kein Polizei-Videomaterial vom Abend des 14. Juli 2021 existierte“ – dies hätten schließlich im Februar 2022 sowohl das PP ELT als auch das Polizeipräsidium Koblenz zurückgemeldet.
Nun aber habe das Polizeipräsidium Koblenz wegen des erneuten Beweisbeschlusses vom 29. August 2022 die Polizeihubschrauberstaffel „explizit nach Videoaufzeichnungen bezogen auf den 13. bis 15. Juli 2021 und bezogen auf die Flutkatastrophe im Landkreis Ahrweiler“ gefragt, heißt es weiter. „Es ist einzuräumen, dass die Polizei bezüglich der Videos gegenüber dem Untersuchungsausschuss schon vor dem Beweisbeschluss vom 29. August 2022 vorlagepflichtig gewesen wäre“, räumten nun Christoph Semmelrogge, PP ELT.-Präsident und Karlheinz Maron, Präsident des Polizeipräsidiums Koblenz laut Innenministerium ein.
Innenministerium gab Videos erst nach 10 Tagen weiter
Im Innenministerium seien die Videos nach ihrem Eintreffen gesichtet worden, heißt es weiter – warum allerdings danach nicht umgehend die Öffentlichkeit, oder wenigstens die Mitglieder des U-Ausschusses informiert worden, teilt das Ministerium nicht mit. Erst zehn Tage später, am 19. September, wurde der USB-Stick mit den brisanten Videos dem Aktenraum des Landtags überstellt. Dort entdeckten ihn am 20. September Mitarbeiter der Freien Wähler (FW), deren Obmann Stephan Wefelscheid daraufhin die Videos per Antrag in die Ausschussarbeit einführte.
Was in den zehn Tagen im Mainzer Innenministerium mit den Videos geschah, und wer sie alles zu Gesicht bekam, ist weiter unklar. Der zuständige Bearbeiter für die Akten habe die Videos gesichtet und sie wegen der möglicherweise darauf zu erkennenden Personen als vertraulich eingestuft, heißt es nun. Im Ministerium räumt man auch ein, dass die Ausschuss-Mitglieder erst am 20. September die Chance hatten, die Videos zu sehen – ganze drei Tage vor der zweiten Vernehmung von Innenminister Lewentz.
Lewentz selbst habe die Videos aber „erst am 23. September gesehen“, betont seine Pressestelle weiter – der Grund: Der Minister habe „ausschließen wollen, sich einen unzulässigen Vorteil im Vorfeld seiner Zeugenaussage zu verschaffen.“ Dennoch war Lewentz über die Existenz der Videos sehr wohl informiert – und wohl auch darüber, was genau sie zeigen. „Mündlich war die Hausspitze des Innenministeriums über die Zusendung des in Rede stehenden Videomaterials informiert worden“, räumt das Ministerium ein.
Lewentz kannte Schilderungen der Hubschrauber-Piloten
Was Lewentz in der Flutnacht sehr wohl zu Gesicht bekommen hatte, waren drei Fotos aus demselben Hubschrauber, die eindrucksvoll das unter Wasser stehende Ahrtal zeigten – und zwar an den drei Orten Schuld, Liers und Altenburg. Mehr noch: Lewentz kannte auch die Lagebeobachtung der Hubschrauberbesatzung – mithin also die Schilderung der Szenen, die sich den Piloten boten. Die Informationen erreichten Lewentz wohl stückchenweise: Um 23.04 Uhr erfuhr der Minister von eingestürzten Häusern in Schuld, um 23.46 Uhr wurden ihm die fraglichen Fotos zugesandt.
Irgendwann danach meldete sich der Minister persönlich im Lagezentrum des Innenministeriums, es ist anzunehmen, dass er zu diesem Zeitpunkt die Eindrücke der Piloten geschildert bekam. Um 0.40 Uhr versuchte Lewentz daraufhin, Ministerpräsidentin Malu Dreyer (SPD) telefonisch zu erreichen, als das fehlschlug, schrieb er ihr um 00.58 Uhr per SMS: „Liebe Malu, die Lage eskaliert.“ In Schuld seien wohl sechs Häuser eingestürzt, weitere Einstürze drohten.
Und weiter schrieb der Minister: „Unsere Hubschrauber flogen darüber, bekamen Lichtzeichen mit Taschenlampen, konnten aber nicht runtergehen. Es gab wohl ganz traurige Szenen.“ Was aber tut der Minister danach? Nach bisherigem Kenntnisstand versucht Lewentz um 1.00 Uhr morgens noch vergeblich, Oberst Weber von der Bundeswehr zu erreichen – eine Warnung der Bevölkerung veranlasst der Minister selbst jetzt noch nicht.
Gegen 2.00 Uhr morgens ging Lewentz seiner eigenen Aussage zufolge zu Bett. Er sei „sehr besorgt gewesen“, gab er bei seiner Vernehmung im April noch an, doch von der Lage im Ahrtal sei auch zu diesem Zeitpunkt „noch nichts belegt gewesen“ – man habe „auf belastbare Informationen warten müssen.“ Die Existenz der Videos aus dem Polizeihubschrauber war damals nicht bekannt – dabei hätten sie spätestens seit Februar dem Ausschuss vorliegen müssen.
„Auch die neuerliche Stellungnahme des Innenministeriums vermag aus meiner Sicht nicht zu erklären, warum es im Februar 2022 beim PP ELT zu der Fehlanzeige gegenüber dem Ministerium gekommen ist“, kritisierte deshalb nun FW-Obmann Wefelscheid: „Ich bin sehr gespannt, wie die Landesregierung im Detail dieses Mysterium erklären will – mir erschließt es sich nicht.“ Auf Antrag der Freien Wähler wird sich nun auch der Rechtsausschuss des Landtags am kommenden Donnerstag mit dem Thema beschäftigen – der U-Ausschuss wird der Frage der Polizeivideos am 14. Oktober ausführlich mit neuen Zeugenbefragungen nachgehen.
Ob die fraglichen Videos nun doch der Öffentlichkeit gezeigt werden, wird derzeit geprüft: Das Polizeipräsidium Koblenz prüfe derzeit „die nötigen Veränderungen hinsichtlich des Schutzes der Persönlichkeitsrechte“, teilte das Innenministerium mit, dabei würden juristische Expertise aus der Polizeiabteilung und der Staatsrechtsabteilung einbezogen, ebenso ein Datenschutzbeauftragter der Polizei. Die technische Umsetzung erfolgt durch die Spezialisten des Sachgebietes Medieneinsatz im PP ELT.
Baldauf: „Polizei soll für Versagen des Ministers herhalten“
CDU-Landeschef Christian Baldauf warf dem Innenminister derweil Ablenkungsmanöver vor: „Jetzt soll die Polizei für das Versagen des Innenministers am Flutabend herhalten.“, schimpfte Baldauf: „Dahinter steht ein unanständiger Versuch, von der eigenen Schuld abzulenken.“ Lewentz habe in der Flutnacht „alle Informationen gehabt, die er brauchte, um eine Katastrophe historischen Ausmaßes zu erkennen.“
Der Minister habe von einstürzenden Häusern gewusst, von Menschen, die um ihr Leben kämpften, „und er handelte nicht“, sagte Baldauf: „Hier liegt sein ganz persönliches Fehlverhalten.“ Zugleich stehe Lewentz als Innenminister in der politischen Verantwortung für das Organisationsversagen im Innenministerium. „Statt in der Flut die Kommandobrücke zu betreten, sah Lewentz vom Ufer aus der Ferne zu, wie das Schiff langsam unterging“, fügte Baldauf hinzu.
Info& auf Mainz&: Mehr zur Geschichte, wie die Polizei-Videos im U-Ausschuss auftauchten, lest Ihr hier bei Mainz&. Welchen Weg die Videos ersten Recherchen zufolge nahmen, könnt Ihr hier nachlesen, warum die Videos schon im Februar hätten vorliegen müssen, haben wir hier nachgezeichnet. Was Innenminister Roger Lewentz in der Flutnacht alles wusste, was er tat und was nicht, haben wir hier bei Mainz& aufgeschrieben.