Das Mainzer Open Ohr tanzt wieder: Vier Tage lang wurde auf der Mainzer Zitadelle gefeiert und die Rückkehr des Festivals in vollen Zügen genossen. Nach zwei Jahren Zwangspause brach sich die Lust auf Livemusik, Treffen und einfach Festivalluft-Schnuppern in vollen Zügen Bahn: Das Open Ohr war vor allem am Samstag rappelvoll. Rund 8.500 Besucher dürften sich auf dem Gelände getummelt haben – pro Tag. Inhaltlich wurde intensiv diskutiert, es ging um Teilen und Teilhabe, um die Frage, wie steuern Steuern Staat und Gesellschaft – und ist ein Millionen schweres Steuergeschenk an die Mainzer Firma Biontech eigentlich okay?

Rappelvolle Hauptwiese am Samstag: das Open Ohr-Festival ist zurück. - Foto: gik
Rappelvolle Hauptwiese am Samstag: das Open Ohr-Festival ist zurück. – Foto: gik

„Steuern lenken, Steuern finanzieren, Steuern verteilen um“, sagt Max Krahé: „Steuern reflektieren die Prioritäten, die wir setzen, und zwar die in der Praxis.“ Der politische Ökonom ist Mitgründer und Research Direktor des „Dezernat Zukunft“, einem Thinktank, der Geld-, Finanz- und Wirtschaftspolitik eigenen Angaben zufolge neu denken will. Krahés eigener Forschungsschwerpunkt an der Universität Duisburg-Essen widmet sich dem Thema „Die Politischer Ökonomie der Ungleichheit“, nun sitzt er an diesem Sonntag auf dem Open Ohr in Mainz.

„Gegensteuern“ als Thema des Open Ohr 2022

„Gegensteuern“ heißt das Motto der politischen Jugendkulturfestivals in diesem Jahr, es geht um Gerechtigkeit und Umverteilung, um Staatsverantwortung und Gestaltung der Gesellschaft. Die Diskussionspodien drehen sich um Steueroasen und Steuerbetrug, vor allem aber ganz zentral um den Sinn von Steuern – und vielerorts werden dabei erst einmal Grundlagen erklärt: Wie funktioniert das eigentlich so mit den Steuern in Deutschland?

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„Knapp ein Viertel der Steuern in Deutschland wird von Unternehmen gezahlt“, erklärte da etwa Moritz Mergen vom Landesverband der Unternehmerverbände Rheinland-Pfalz beim Podium „Steueroasen“. Nun kann man das viel finden, wie Mergen, der betonte, das zeige, dass von Seiten der Unternehmen „schon viel gezahlt wird.“ Und man kann es wenig finden, wie Martin Schirdewan, der für die Linke im Europaparlament sitzt und nun auch für den Parteivorsitz kandidieren will.

Podium zum Thema "Steueroasen" mit Moritz Mergen (LVU, Mitte) und Martin Schirdewan (Links, 2.v. rechts). - Foto: gik
Podium zum Thema „Steueroasen“ mit Moritz Mergen (LVU, Mitte) und Martin Schirdewan (Links, 2.v. rechts). – Foto: gik

„Die Politik sei vor einigen Jahren bereits „in einen Steuer-Dumping-Wettbewerb eingetreten“, klagt Schirdewan: Mit rund 45 Prozent habe einst der sogenannte rheinische Kapitalismus zu Zeiten von Bundeskanzler Helmut Kohl (CDU) die Unternehmen besteuert, heute liege der Steuersatz für Unternehmen in Europa gerade einmal bei 23-25 Prozent. „Es gab einen Kurswechsel, der dazu geführt hat, dass Unternehmen immer weniger zu einem funktionierenden Staat beitragen“, kritisiert Schirdewan – mit gravierenden negativen Folgen für die Finanzierung von Gesundheitssystem oder ÖPNV.

Schirdewan hat mehrere Studien zur Steuerpraxis vor allem großer Unternehmen wie Apple, Google und Co. in Auftrag gegeben, dabei kam etwas heraus, dass Apple im Jahr 2014 – damals das reichste Unternehmen der Welt – auf eine Million Euro Gewinn ganze 50 Euro Steuern gezahlt habe, wie Schirdewan jetzt auf dem Open Ohr berichtet. Der Logistikkonzern Amazon gar mache in seiner Heimat USA Verluste geltend und zahle so nicht nur keinen einzigen Cent an Steuern – „sondern bekommt noch Geld zurück“, kritisiert Schirdewan: „Die Unternehmen geben eben nicht an die Gesellschaft zurück, das ärgert mich.“

 

Ganz klar: Es läuft etwas schief im Staate, aber trifft das nun pauschal auf alle Unternehmen zu? Die vielen mittelständischen Unternehmen ärgere die Steuerflucht der internationalen Konzerne sehr wohl auch, betonte Mergen: „Es ist ein Innovationskiller, wenn manche Steuern zahlen und andere nicht“, betonte er – wie solle denn unter diesen Bedingungen das nächste innovative Startup entstehen können, „das vielleicht noch einmal eine neue Idee hat, die uns weiterbringt.“ Fair, gerecht und transparent müsse das Steuersystem sein, forderte Mergen: „Amazon muss zahlen, aber die anderen müssen auch leben dürfen.“

Steuervermeidungsindustrie: 20 Milliarden Euro Verlust

Viele Fragen rund um das Thema Steuern und Vermögen. - Foto: gik
Viele Fragen rund um das Thema Steuern und Vermögen. – Foto: gik

Tatsächlich aber läuft der Wettbewerb zur Steuervermeidung auf Hochtouren, und das nicht nur durch Verlagerung in exotische Steueroasen wie auf den Jungferninseln, machte die Finanz- und Wirtschaftssoziologien Silke Ötsch klar: „Es gibt eine ganze Steuervermeidungsindustrie“, erklärte sie, viele hochspezialisierte Kanzleien hätten ab den 1990er-Jahren begonnen, Steuersparmodelle im großen Stil zu verkaufen – ganz legal. Und der Weg in Steueroasen müsse gar nicht weit sein: Oasen gebe es auch in der Schweiz, in Staaten der USA oder ganz nah: in Luxemburg.

„Man schätzt dass die großen, transnational agierenden Unternehmen in Deutschland pro Jahr rund 100 Milliarden Euro in Steueroasen verlagern“, rechnete Schirdewan vor: „Deutschland entgehen dadurch rund 20 Milliarden Euro.“ Damit könne man Kitas und Schulessen in Deutschland kostenlos machen (etwa 6,5 Milliarden Euro Kosten) oder den Pflegenotstand überwinden, wofür 15 Milliarden Euro nötig wären: „Das ist eine ungeheure Summe.“

 

Und auch Deutschland sei in Sachen Steuerwettbewerb kein Waisenknabe, betonte Trautvetter. Zwar liege in Deutschland der Unternehmenssteuersatz mit 30 Prozent im Europavergleich relativ hoch, doch bei der Gewerbesteuer laufe „ein brutaler Wettbewerb“ zwischen den Kommunen. Im Schnitt betrage die Gewerbsteuer umgerechnet 15 Prozent, manche Kommunen aber setzten gerade einmal den Mindestsatz von 7 Prozent an – auch das sei eine Art innerdeutscher Steueroase.

Gewerbesteuersenkung in Mainz: Geschenk an Biontech?

Die Senkung der Gewerbesteuer in Mainz - ein Geschenk (nicht nur) an das Pharmaunternehmen Biontech. - Foto: gik
Die Senkung der Gewerbesteuer in Mainz – ein Geschenk (nicht nur) an das Pharmaunternehmen Biontech. – Foto: gik

Tatsächlich hat die Stadt Mainz gerade ihren eigenen Gewerbesteuersatz deutlich gesenkt, von rund 14 Prozent auf künftig 10 Prozent, der Grund dafür heißt: Biontech. Das Biotechnologie-Unternehmen machte mit seinem Corona-Impfstoff im Jahr 2021 Milliarden, 10,3 Milliarden Euro Nettogewinn standen am Ende zu Buche – die Stadt Mainz darf sich deshalb über einen wahren Geldregen freuen: 1,09 Milliarden Euro Jahresüberschuss verzeichnet die Stadt nun plötzlich für das Jahr 2021, für 2022 werden weitere Hunderte Millionen an Gewerbesteuereinnahmen erwartet.

Und das trieb offenbar die Biontech-Chefs um: Damit Biontechin Mainz weiter wachsen könne, „musste man zusammenkommen – und hat sich geeinigt“, berichtete Mergen offen. Kurz: Die Senkung der Gewerbesteuer war ein Geschenk an Biontech, das Mainzer Unternehmen zahle dadurch rund 600 Millionen Euro weniger an Steuereinnahmen, rechnete Trautvetter vor – Geld, das der Stadt Mainz für Investitionen entgehe.

 

Tatsächlich hat Mainz seinen Gewerbesteuersatz damit aber auch dem Nachbarn Ingelheim angeglichen: Dort leistet man sich schon seit Jahren einen niedrigen Satz, ein Entgegenkommen an den Pharmakonzern Boehringer Ingelheim – ein Nachteil ist das für die kleine Rotweinstadt nicht unbedingt: der Kreis Mainz-Bingen ist die reichste Kommune in ganz Deutschland, trotz oder gerade wegen des niedrigen Steuersatzes – den der lockt auch andere Unternehmen, ihren Sitz nach Ingelheim zu verlegen.

"Heiße" Debatten auf glühendem Asphalt am Samstag beim Open Ohr. - Foto: gik
„Heiße“ Debatten auf glühendem Asphalt am Samstag beim Open Ohr. – Foto: gik

„Bei Biontech ist die Frage: wo werden sie in Zukunft größer? Wo werden sie wachsen?“, gab Mergen deshalb zu bedenken. Das Unternehmen hat bereits rund 3.000 Arbeitsplätze in Mainz geschaffen, weitere 2.000 sollen in naher Zukunft folgen – Biontech besitzt weitere Standorte, unter anderem ein Werk in Marburg, die Frage sei doch, wo das weitere Wachstum passiere, betonte Mergen.

Zumal Mainz mit dem niedrigen Steuersatz weitere Biotech-Unternehmen anziehen will,  rund 5.000 Arbeitsplätze könnten so in den kommenden zehn Jahren entstehen – und damit weitere Gewerbesteuern und Einkommenssteuern für die Stadt generieren. Was also ist der richtige Weg – den Unternehmen entgegenkommen, oder die Gewinne für die Finanzierung von Gemeinschaftsaufgaben strikt abschöpfen, dabei aber ein Abwandern riskieren? Wohltuend auf dem Open Ohr 2022 war dabei, dass die Diskussionsforen durchaus kontrovers besetzt waren und so verschiedene Ansätze zur Debatte gestellt wurden.

 

Die Steuerrevolution lässt auf sich warten

Einig war man sich indes durchaus in einem Punkt: Gar keine Steuern zu zahlen, ist inakzeptabel. Die angekündigte globale Mindeststeuer für Unternehmen weltwei6t begrüßten deshalb Vertreter aller Couleur – ihre Höhe ist indes umstritten: 15 Prozent seien zu wenig, befand Schirdewan, zumal sie ja auch noch gar nicht final beschlossen sei, betonte Trautvetter: „Die Steuerrevolution ist ausgerufen, aber noch nicht passiert.“

Debatten im Regenguß am Sonntag, hier beim Podium "Tax the Rich". - Foto: gik
Debatten im Regenguß am Sonntag, hier beim Podium „Tax the Rich“. – Foto: gik

Ein deutscher Alleingang sei da aber auch keine Lösung, argumentierte der CDU-Landtagsabgeordnete Gerd Schreiner – das führe unter Umständen nur dazu, dass sich mehr Unternehmen ins Niedrigsteuerland Irland verlagerten. Das war dann schon beim Podium „Tax the Rich“, das am Sonntag stattfand – die Themen waren im Grunde die gleichen: Wer Steuern zahlt, hat Einfluss, wer viel Steuern zahlt, hat großen Einfluss.

„Es gibt einen Konsens, dass wir zu wenig besteuern“, befand Krahé – das betreffe vor allem die Erbschaftssteuer, die gerade für große Einkommen mit gerade einmal fünf Prozent viel zu niedrig sei. Dabei stehe sogar in der bayrischen Verfassung, dass mit der Erbschaftssteuer eine Unternehmenskumulation vermieden werden solle, sagte der SPD-Bundestagsabgeordnete Yannik Haan: Die Politik habe früher einen Gegenpol gebildet gegen den Einfluss von Unternehmen, das sei seit 15 Jahren anders. Das aber könne sogar die Demokratie gefährden, weil sich Menschen nicht mehr beteiligten, wenn ihre Bedürfnisse nicht mehr berücksichtigt würden.

 

Wie also „Gegensteuern“? Vorschläge gab es so einige: Bürgerräte, die Vorschläge erarbeiten, wie die Steuereinnahmen verwendet werden sollen, etwa. Beteiligungsfonds des Staates an Unternehmen, die Anteile abgäben statt etwa Erbschaftssteuer zu zahlen, schlug ein Unternehmer aus dem Publikum vor: „So könnten wir ungeheure Vermögen für den Staat generieren.“

Gefeiert wurde aber auch - vor allem beim Auftritt von Rapperin Nura. - Foto: giik
Gefeiert wurde aber auch – vor allem beim Auftritt von Rapperin Nura. – Foto: giik

Das „Netzwerk Steuergerechtigkeit“ fordert, Vermögende gerechter an der Finanzierung des Staates zu beteiligen, im Verein „Taxmenow“ fordern gar Millionäre in Deutschland persönlich eine höhere Besteuerung von Millionenvermögen – mit Vermögensabgaben, Sonderregeln bei Erbschaftssteuer und striktere Regeln gegen Steuervermeidung. 57 vermögende Menschen haben den Aufruf bereits unterzeichnet, davon 25 mit vollem Namen – ihre Petition hat bereits 80.000 Unterzeichner gefunden.

„Studien zeigen, es kann sich was drehen“, sagte auch Yannik Schwarz vom Netzwerk Steuergerechtigkeit. Sie zeigten auch, dass jeder einzelne sehr wohl Einfluss ausüben könne – einfach, in dem er oder sie den eigenen Abgeordneten im Parlament anschreibe. „Das bewegt sehr wohl etwas“, betonte Schwarz, „da hat der Einzelne sehr wohl Macht und Einfluss.“

 

Wer dann noch tiefer philosophisch einsteigen wollte, konnte das etwa beim Vortrag des Wirtschaftsethnologen Thomas Widlok tun, bei dem es um die Kunst des (echten!) Teilens, um seine Kommerzialisierung mittels Handy-App und die Frage ging: Wie öffnen wir die Türen wieder zu echtem Teilen – und nicht nur dem Abwerfen des eigenen Sperrmülls. Da hatte der Himmel über Mainz gerade seine Schleusen geöffnet, das Sonntagnachmittag lud so zum gemeinsamen Philosophieren auf der Zuflucht der Bühne ein – der Referent nahm’s mit Humor: „Frage – oder Unterstellen?“

Ganz viel Liebe für den Auftritt von Nura, der Rapperin. - Foto: gik
Ganz viel Liebe für den Auftritt von Nura, der Rapperin. – Foto: gik

Ansonsten aber glänzte das Open Ohr mit Sonnenschein satt und gerade am Samstag hochsommerlichen Temperaturen. Und am Abend stellte sich definitiv Urlaubsfeeling beim Abtanzen vor der Bühne ein. Vor allem die eritreisch-deutsche Rapperin Nura sorgte für glänzende Augen und Begeisterungsstürme ihrer zumeist jugendlichen Fans – und brachte mit ihrem hypnotischen Sound das gesamte Open Ohr zum Abtanzen. Da war es endlich wieder, das Festival-Feeling auf der Zitadelle in Mainz, und nach so viel erzwungener Distanz und Problemzeit lag nun wieder ganz viel Liebe und Glück in der Luft.

Info& auf Mainz&: Mehr zum Netzwerk Steuergerechtigkeit und seinen Forderungen findet Ihr hier im Internet. Studien zum Thema Steuergerechtigkeit und derzeit aktuell zum Thema Kriegsgewinner findet Ihr auch hier beim Linken-Politiker Martin Schirdewan. Mehr Hintergrund zum Open Ohr-Thema „Gegensteuern“ könnt Ihr zudem hier bei Mainz& nachlesen:

“Gegensteuern”: Open Ohr-Festival in Mainz widmet sich an Pfingsten Steuern, Staats-Verantwortung und Gerechtigkeit