Ostern ist das wichtigste Fest der Christen, doch die Zahl der Menschen, die noch Mitglied in einer der beiden christlichen Kirchen sind, sinkt ständig: Nur noch gut gut 45 Prozent der Menschen in Deutschland sind neuesten Zahlen zufolge Mitglied der katholischen oder evangelischen Kirche. In Scharen kehren die Mitglieder den Kirchen den Rücken, angesichts von Missbrauchsskandalen, aber auch der Sprachlosigkeit der Kirchen gegenüber den aktuellen Krisen. Der Mainzer Bischof Peter Kohlgraf zeigte sich nun in einem Interview mit dem Radiosender RPR1 ratlos. Die zunehmende Säkularisierung rüttelt aber auch an den Feiertagen – was macht das mit einer Gesellschaft? Eine Mainz&-Kolumne zum Osterfest

Osternacht in der Gotthardkappelle des Mainzer Doms in der Corona-Pandemie: Viel Kreuz, wenig Nähe. - Foto: gik
Osternacht in der Gotthardkappelle des Mainzer Doms in der Corona-Pandemie: Viel Kreuz, wenig Nähe. – Foto: gik

Der Kreuzweg. Die Kreuzigung Christi. Sterben und Wiederauferstehung. In diesen Tagen begehen die Christen weltweit ihre höchsten Feiertage, sie markieren den Kern der christlichen Glaubenslehre vom Heiland, der für die Sünden der Menschen starb und damit die Botschaft von Liebe und Vergebung in die Welt brachte. Vor 2.000 Jahren war das revolutionär: In einer Zeit von Kriegen und erbarmungslosem Überlebenskampf, war die Botschaft, dass die Liebe stärker ist als alles andere, und dass Hingabe und Opfer Hass und Tod überwinden kann, radikal neu und anders.

Im Jahr 2025 toben erneut Kriege in lange nicht gekanntem Ausmaß, propagieren Autokraten in Machtpositionen das Überleben des Stärksten. Ein US-Präsident zettelt Handelskriege an, ein russischer Präsident überzieht ein Nachbarland gnadenlos mit Tod und Zerstörung, und nimmt dabei immer mehr die Zivilbevölkerung in den Blick – Frieden auf Erden scheint weiter weg denn je. Wenn also der Papst an Ostersonntag den Segen „Urbi et Orbi“ der Stadt und dem Weltkrieg spenden – was ist noch übrig von der österlichen Botschaft von Vergebung, Wiederauferstehung und Frieden auf Erden?

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Dramatischer Mitgliederschwund in beiden Kirchen

Wenig, könnte man sagen. Die Botschaft der Christen von Liebe ist wichtiger denn je, sagen die einen. Für die meisten Menschen in Deutschland scheint sie aber immer weiter weg von ihrem Leben im Alltag zu rücken: Weniger als 20 Millionen Menschen in Deutschland sind noch Mitglied der Katholischen Kirche. 19,8 Millionen Kirchenmitglieder zählte die Katholische Kirche im Jahr 2024 gerade noch, knapp 18 Millionen waren es bei der Evangelischen Kirche – damit sind noch gut ein Drittel der Menschen in Deutschland Mitglied einer der beiden großen christlichen Kirchen.

Kirche in der Corona-Pandemie: Viel Ferne, wenig Wärme und noch weniger Halt für die Menschen in der Krise. - Foto: gik
Kirche in der Corona-Pandemie: Viel Ferne, wenig Wärme und noch weniger Halt für die Menschen in der Krise. – Foto: gik

Wie dramatisch sich die Zahlen binnen gerade einmal 25 Jahren verändert haben, zeigt ein Vergleich auf dem Internetportal Kirchenaustritte.de: Danach waren im Jahr 1990 noch 72,3 Prozent der Menschen in Deutschland Mitglied der Katholischen (35,4 Prozent) oder Evangelischen (36,9 Prozent) Kirche – 2023 waren es noch 46 Prozent. 2024 sanken die Zahlen weiter, wie gerade vorgestellte Statistiken der beiden Kirchen zeigen: Danach traten im vergangene Jahr 345.000 Menschen aus der evangelischen und rund 322.000 Menschen aus der Katholischen Kirche aus – Ende 2024 noch 37,8 Millionen Menschen einer der beiden Kirchen an, das waren noch etwas mehr als 45 Prozent.

Die erste große Austrittswelle gab es Anfang der 1990er Jahre, doch den großen Schwund erleben die Kirchen in Deutschland vor allem seit 2021: Die Corona-Pandemie markierte auch hier einen Wendepunkt. Tatsächlich war von den großen Kirchen in der tiefsten Krise der Gesellschaft seit dem Zweiten Weltkrieg nahezu nichts zu sehen und zu hören: Die Kirchen schlossen karitative Einrichtungen und sogar die Tafeln für Hilfsbedürftige, selbst  große Kirchenbauten waren kein Anlaufpunkt für Hilfesuchende, Gottesdienste wurden aus Angst vor Ansteckungen flächendeckend abgesagt.

Kirchenoberen: stumm, ratlos, fern der Menschen

Doch auch die Kirchenoberen blieben in der Krise seltsam stumm und unsichtbar: Moralische Leitlinien zum Umgang mit Angst, Pandemie und Sterben? Fehlanzeige. Vor Ort liefen sicher Priester und Pfarrerinnen zu Hochform auf, doch an der Aufgabe, Halt und Orientierung gerade in der Krise für eine breite Gesellschaft zu vermitteln, daran scheiterten beide Kirchen grandios. Dazu kamen gleich reihenweise Missbrauchsskandale und ein Umgang der Kirchen mit diesem Vertrauensbruch, der viele dazu brachte, sich entsetzt abzuwenden – die Kirchenaustritte erreichten Rekordhöhen.

Der beliebte Mainzer Bischof Kardinal Karl Lehmann (vorne) und sein Nachfolger Peter Kohlgraf. - Foto: Bistum Mainz
Der beliebte Mainzer Bischof Kardinal Karl Lehmann (vorne) und sein Nachfolger Peter Kohlgraf. – Foto: Bistum Mainz

„Den bisherigen Höchstwert an Austritten verzeichnete die Statistik für das Jahr 2022“, weiß man beim Internetportal Katholisch.de: „Damals verließen mehr als 520.000 Katholikinnen und Katholiken ihre Kirche.“ Der Mitgliederschwund schlägt sich längst auch in der Gesellschaft nieder: Waren früher Wortmeldungen von Bischöfen wie dem Mainzer Kardinal Karl Lehmann Topmeldungen in den Nachrichten, so schlägt sich heute kaum noch eine Verlautbarung der Kirchenoberen im Nachrichtenflow nieder – die Relevanz ist einfach nicht mehr gegeben.

Und was haben Kirchenfürsten in diesen Zeiten denn auch noch zu sagen, was anzubieten? Zölibat, das Priestertum der Frau, Sakramente für Geschiedene und Homosexuelle – sämtliche Reformbestrebungen in Deutschland wurden vom Vatikan mit eiserner Faust abgeschmettert. Bischöfe wie der Kölner Kardinal Woelki richteten mit ihrer Arroganz und Uneinsichtigkeit erheblichen Flurschaden an: Das Diktat einer Meinung Ex Kathedra, also von der Kanzel aus – es zieht in modernen Zeiten einfach nicht mehr.

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Interview: Ist die Kirche zu weit weg vom Leben der Menschen?

Die Kirche selbst reagiert ratlos und hilflos auf den Schwund ihrer Schäfchen: Man dürfe vor dem Mitgliederschwund „nicht die Augen verschließen“, sagte der Vorsitzende der Deutschland Bischofskonferenz, der Limburger Bischof Georg Bätzing, bei der Vorstellung der neuesten Zahlen im März diesen Jahres, und betonte: „Sie fordern uns heraus, neu zu fragen: Für wen sind wir als Kirche da?“ Die frohe Botschaft sei nicht kleiner geworden, „aber sie muss anders und glaubwürdig unter die Menschen gebracht werden.“

Der Mainzer Bischof Peter Kohlgraf. - Foto: gik
Der Mainzer Bischof Peter Kohlgraf. – Foto: gik

Nur wie? Welche Botschaft hat die Kirche denn noch den modernen Menschen mit ihren Sorgen und Nöten in einem Alltag voller Hektik, Anforderungen und Digitalisierung noch anzubieten? Entspannung wird heute auf der Couch, im Ferienclub oder beim Abfeiern auf Festivals und anderswo gesucht. Viele wollen in ihrer Freizeit nicht still sitzen und erzählt bekommen, was sie zu tun und zu lassen haben, sondern etwas erleben, reisen, sich selbst spüren. Ist die Kirche also zu weit weg vom Leben der Menschen, fragte nun der Radiosender RPR1 den Mainzer Bischof Peter Kohlgraf.

Dessen Antworten zeigen, wie wenig die Kirche eine Idee hat, was sie den Menschen noch zu bieten hat: „Das macht mich auch ein Stückchen ratlos, weil ich glaube, dass wir eine gute Botschaft haben, nämlich die Botschaft des Lebens“, sagte Kohlgraf dem Radiosendern. Die Botschaft sei doch: „Du bist geliebt, du bist in diese Welt gestellt mit einer Verantwortung, du bist Kind Gottes und andere Menschen eben auch und da gilt es, Gemeinschaft zu gestalten“, sagte Kohlgraf weiter, und räumte selbstkritisch ein: „Trotzdem meine ich, dass wir oft nicht die richtige Sprache finden.“

Was macht Kirche für Menschen attraktiv, wichtig und relevant?

Kohlgraf bezog sich dabei konkret auf die „theologische oder innerkirchliche Fachsprache“, mit Begriffen wie „Gnade“ oder „Erlösung“ würden viele Menschen nichts mehr verbinden. „Was bedeutet das konkret für mein Leben? Wie kann ich das in mein Leben übersetzen? Das ist, glaube ich, die Aufgabe, die wir heute als Kirche haben, das gut zu kommunizieren“, sagte Kohlgraf. Funktionieren werde das „wahrscheinlich nur über persönliche Zeugnisse, die ich geben kann, die Menschen geben können.“

Der Anfang 2018 verstorbene Mainzer Bischof Karl Kardinal Lehmann war oft mitten unter Menschen zu finden, gerne auch mal beim Fußballclub Mainz 05. - Foto: Bistum Mainz
Der Anfang 2018 verstorbene Mainzer Bischof Karl Kardinal Lehmann war oft mitten unter Menschen zu finden, gerne auch mal beim Fußballclub Mainz 05. – Foto: Bistum Mainz

Nur: Dafür braucht es auch Kontakt zu Menschen der Kirche, und gerade der schwindet immer mehr. „Ich glaube, dass die wichtige Frage ist, wie kriegen wir die gute Botschaft kommuniziert? Wie kriegen wir Menschen mit Gott in Berührung, der uns liebt, der uns Leben gibt“, sagte Kohlgraf denn auch, das seien die eigentlichen Fragen: Es gehe darum, Menschen zum Nachdenken zu bringen. Wie wenig die Kirche selbst dafür aber Ideen hat, macht das Interview auch deutlich: Das „eine Rezept“ gebe es nicht, räumte der Mainzer Bischof ein, „dafür ist die Welt zu kompliziert, dafür sind die Menschen zu komplex, dafür sind die Themen zu differenziert.“ Die einfache Lösung gebe es in der Kirche nicht.

Was aber macht Kirche dann wieder attraktiv und wichtig für Menschen? Wohl immer dann, wenn sie eine unterstützende und begleitende Rolle spielt – in früheren Jahrhunderten war es auch die Rolle, Werte und Wissen zu vermitteln. Doch diese Rolle ist den Kirchen in Zeiten von digitalen Medien endgültig abhanden gekommen, die USA zeigen, wie der Populismus auch den religiösen Raum erst erobert und dann vergiftet hat – Hardliner und Evangelikale geben dort längst den Ton an. Das Ergebnis: Bücherverbrennungen, Abtreibungsverbote und quasi-religiöse Ersatzanbetung von Führungsfiguren.

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Botschaften, die fern von den Menschen bleiben

Vielleicht würde es ja schon helfen, wenn Kirchenvertreter wieder öfters mal Stellung beziehen würden zu politischen Themen, sich einmischen in Debatten – so, wie es der legendäre Kardinal Lehmann es verstand. Der Kirchenmann war ein Wächter von Humanismus und Toleranz, ein Menschenfreund, einer, der seine Nachdenklichkeit und sein Ringen mit Entscheidungen nicht verbarg, sondern nach außen trug. Einer, der Humor durchblitzen ließ, und der in seinem letzten Gottesdienst sagte: „Seid wachsam, seid mutig, seid stark – und alles, was Ihr tut, geschehe in Liebe.“

Der Mainzer Dom: Fotomotiv, Wahrzeichen, Architekturdenkmal - aber Ankerpunkt in Krisen? - Foto: gik
Der Mainzer Dom: Fotomotiv, Wahrzeichen, Architekturdenkmal – aber Ankerpunkt in Krisen? – Foto: gik

Von seinen Nachfolgern ist so gut wie nichts mehr zu hören, dabei hatte der Mainzer Bischof Kohlgraf selbst noch vor Kurzem gesagt, die Kirchen sollten sich zu grundsätzlichen Fragen der Menschenwürde, der Sozialpolitik und des Friedens zu Wort melden. Vielleicht sollte die Kirche dabei vor allem dies bedenken: Nur wer mitten im Leben steht, wird Botschaften senden können, die für die Menschen relevant sind. „Karlchen“ Lehmann war einer, der den Menschen das Gefühl gab, gesehen zu werden. Einer, der auf Menschen zuging, und sich auch mal beim Fußball oder einem Glas Wein amüsieren konnte, der „mit beiden Beinen auf der Erde stand“, wie viele Mainzer bei seiner Beerdigung sagten.

Auch Kohlgraf ist im Fußball-Stadion und in der Fastnacht unterwegs, doch im lockeren Gespräch mit Menschen, sieht man den Mainzer Bischof dabei so gut wie nie. Kohlgraf ist in all seinen Jahren als Bischof in Mainz für die meisten eine ferne Instanz geblieben, Begeisterung löst man so eben nicht aus: Nur wer nah bei den Menschen ist, wird sie erreichen.

Im Gründonnerstags-Gottesdienst sprach Kohlgraf über „einen der für mich eindrucksvollsten Texte“, darin heißt es über Jesus‘ Leiden: „Obwohl er der Sohn war, hat er durch das, was er gelitten hat, den Gehorsam gelernt.“ Gehorsam, Aufopferung, Dein Wille geschehe – wirklich? Sind das die Botschaften, die Menschen diesen Zeiten erreichen, wo viele ohnehin schon das Gefühl haben, dass ihnen das Leben mehr abverlangt, als sie haben? „Wer sich hinschenkt, wird das Leben gewinnen“, heißt es in der Predigt des Mainzer Bischofs – wie genau man es aber schafft, dass einen Angst eben nicht lähmt,  dass man Verantwortung übernimmt und an seine Mission glaubt – darauf gab der Text des Bischofs eben keine Antwort. Und das wäre doch die Botschaft für unsere Zeit.

Info& auf Mainz&: Das ganze Interview von RPR1 könnt Ihr hier im Internet lesen oder am Ostersonntag in der Sendung „RPR1. Einfach himmlisch“ zwischen 6.00 und 10.00 Uhr im Radio hören.