Das Lagezentrum des Innenministeriums in Mainz war in der Flutnacht deutlich umfassender informiert, als die Beamten es vor dem Untersuchungsausschuss des Mainzer Landtags glauben machten wollten – und die Beamten hatten auch deutlich früher Hinweise auf das ungeheure Ausmaß der Flutkatastrophe. Neue Emails belegen nun: Das Lagezentrum erhielt um 01.49 Uhr vom Polizeipräsidium Koblenz sogar einen schriftlichen Lagebericht, in dem von großflächigen Überflutungen und Menschenleben in Gefahr die Rede ist – und von etwa 25 weiteren Häusern, die einzustürzen drohten.

Schon in der Flutnacht wurde klar: Im Ahrtal spielt sich eine Katastrophe ab, besonders betroffen war unter anderem Schuld. - Foto: gik
Schon in der Flutnacht wurde klar: Im Ahrtal spielt sich eine Katastrophe ab, besonders betroffen war unter anderem Schuld. – Foto: gik

Die nun aufgetauchten Emails stammen ebenfalls aus der Flutnacht vom 14. auf den 15. Juli 2021, darin fordert um 23.41 Uhr das Lagezentrum des Innenministeriums in Mainz vom Polizeipräsidium in Trier sowie vom Polizeipräsidium (PP) Koblenz dringend Informationen zur Lage in den Flutgebieten an. Gebeten wird „um halbstündige Informationen“, und zwar zu den acht Lagefeldern „Ereignisorte, Personenschäden, Sachschäden, Vermisste, Evakuierungen/Räumungen, Gefahren, Ausfall kritischer Infrastrukturen sowie Verhalten der Bevölkerung“.

Um 01.49 Uhr antwortete daraufhin die Polizeiführerin vom Dienst, Marita Simon, mit einem „Zwischenstand aus Koblenz“, und darin heißt es in aller Kürze: „Überflutung von Ortschaften und Straßen im gesamten nördlichen, linksrheinischen Gebiet PP Koblenz, Menschenleben in Gefahr, da Personen in Häusern und Fahrzeugen eingeschlossen sind.“ Als „Ereignisorte“ wird unter anderem der Bereich „Schuld, Ahrweiler, Adenau, Altenahr“ angegeben – zu diesem Zeitpunkt hatte die Flutwelle also auch schon die untere Ahr erreicht.

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„Viele Notrufe, Evakuierungen laufen, Person ertrunken“

Es gebe „viele Notrufe, dass Menschen auf Dächern stehen oder in Häusern/Pkw eingeschlossen sind“, heißt es in dem Lagebericht, der Mainz& vorliegt, weiter, es gebe zudem „teilweise unvernünftiges Verhalten mit ‚Gaffern‘ auf Brücken und in Flussnähe.“ Viele Häuser seien durch Rettungsdienste evakuiert worden, „Anzahl nicht bekannt, Evakuierungen laufen“, so die knappe Meldung weiter. Personenschäden seien „noch nicht abzusehen“, laut Zeugenangaben sei aber wohl „in Altenahr eine Person in der Wohnung ertrunken“, die Angabe habe aber noch nicht verifiziert werden können.

Video aus dem Polizeihubschrauber in der Flutnacht über dem Ahrtal . - Screenshot: gik
Video aus dem Polizeihubschrauber in der Flutnacht über dem Ahrtal . – Screenshot: gik

Damit hatte das Lagezentrum im Innenministerium spätestens um 01.50 Uhr einen präzisen, wenn auch knappen Überblick über die Katastrophenlage im Ahrtal – einschließlich „teilweise Ausfälle bei den Dienststellen“, da es in den PI Adenau, Ahrweiler und Remagen zu Wassereinbrüchen mit Ausfall von Strom, PC und Telefon gekommen sei. Bereits zuvor war das Lagezentrum nach Aussage von Simon vor dem U-Ausschuss bereits mehrfach mündlich über die katastrophale Lage unterrichtet worden – nun erfolgte sogar ein schriftlicher Bericht.

Die Polizeiführerin hatte sich dabei nicht die Mühe gemacht, ein eigenes Formular auszufüllen, sondern ihre Antworten schlicht in die Email aus Mainz eingefügt, und diese zurückgesandt – in Koblenz gingen in der Flutnacht 7.000 bis 8.000 Notrufe ein, davon allein mehr als 5.100 aus dem Ahrtal. Simon hatte berichtet, die Beamten in Koblenz seien völlig überlastet gewesen und hätten schlicht keine Zeit gehabt, schriftliche Lageberichte zu verfassen – sie persönlich habe das Innenministerium in Mainz aber sehr genau von der Flutwelle im Ahrtal und ihren Folgen informiert.

 

Der nun aufgetauchte schriftliche Bericht ist durchaus brisant, denn er zeigt einmal mehr: Im Lagezentrum des Innenministeriums hatte man in der Flutnacht sehr präzise Informationen, welche Katastrophe sich im Ahrtal entwickelte – und man hatte sie sogar schriftlich. Die diensthabenden Beamten hatten hingegen vor dem U-Ausschuss einhellig ausgesagt, man habe keinen Überblick über die Gesamtlage an der Ahr, sondern „nur punktuelle“ Informationen gehabt – und sei deshalb von einem Hochwasser, nicht aber von der Flutkatastrophe ausgegangen.

Lagebericht aus Koblenz schon 2. schriftlicher Beleg in Flutnacht

In Schuld an der oberen Ahr waren in der Flutnacht mindestens sechs Häuser von den Fluten weggerissen worden. - Screenshot: gik
In Schuld an der oberen Ahr waren in der Flutnacht mindestens sechs Häuser von den Fluten weggerissen worden. – Screenshot: gik

Der Leiter des Lagenzentrums im Innenministerium, Heiko Arnd, hatte zudem bei seiner Vernehmung am 15. Juli 2022 vor dem U-Ausschuss ausgesagt: Erste schriftliche Meldungen habe das Lagezentrum in Mainz „aus dem PP Koblenz erst nach 3.00 Uhr bekommen“. Wie diese Aussage mit der nun aufgetauchten Email zusammenpasst, ist völlig unklar – die schriftliche Lageeinschätzung kam aus Koblenz, und sie kam um kurz vor zwei Uhr nachts.

Zu diesem Zeitpunkt hätte das Lagezentrum wohl auch noch Innenminister Roger Lewentz (SPD) erreichen können – dieser war eigenen Angaben zufolge in der Flutnacht gegen zwei Uhr morgens zu Bett gegangen. Lewentz hatte aber stets betont, es habe in der Flutnacht „keine belastbaren“ Informationen zur Lage im Ahrtal gegeben – das erweist sich nun schon zum dritten Mal als falsch.

 

Erst vor gut zwei Wochen waren Videos aufgetaucht, die ein Polizeihubschrauber zwischen 22.14 Uhr und 22.42 Uhr am Abend des 14. Juli 2021 im Ahrtal drehte – sie zeigen schon zu diesem Zeitpunkt ein Tal, das von Dernau bis Schuld komplett unter Wasser stand, eingeschlossene Menschen in umfluteten Häusern inklusive. Mehr noch: Vergangene Woche war am Rande des Rechtsausschuss bekannt geworden, dass von diesem Einsatz auch ein schriftlicher Einsatzbericht gefertigt und nach Mainz geschickt wurde – der schriftliche Bericht kam um 00.53 Uhr im Lagezentrum des Innenministeriums per Email an.

Dem Untersuchungsausschuss des Mainzer Landtags wurden offenbar mehrere wichtige Dokumente vorenthalten. - Foto: gik
Dem Untersuchungsausschuss des Mainzer Landtags wurden offenbar mehrere wichtige Dokumente vorenthalten. – Foto: gik

Wie Mainz&-Recherchen enthüllten, wurde dieser Einsatzbericht dem Untersuchungsausschuss erst am 19. September 2022, gemeinsam mit den Videoaufnahmen, dem U-Ausschuss zugeleitet – das Innenministerium hätte dies aber schon Ende Dezember 2021 tun müssen. Auch dieser Einsatzbericht beschreibt in aller Klarheit die dramatische Lage im Ahrtal: „So stehen ab der Ortslage Dernau bis zur Ortslage Schuld, in fast allen Gemeinden entlang der Ahr, zahlreiche Häuser bis zum Dach im Wasser“, heißt es da etwa, viele Bewohner gäben SOS-Zeichen mit Taschenlampen.

Auch neue Emails lagen dem U-Ausschuss nicht vor

Mit der Email um 01.49 Uhr erreichte die Beamten im Innenministerium demnach also schon der dritte handfeste Beleg für die sich abspielende Flutkatastrophe und ihre Dimension – doch: Auch die beiden Emails von 23.41 Uhr sowie die Antwort aus Koblenz von 01.49 Uhr wurden dem Untersuchungsausschuss erst vor gut zwei Wochen, also Ende September, zugeleitet.

 

Das Lagezentrum des Innenministeriums hatte den Hubschrauberflug selbst in Auftrag gegeben, nachdem den Beamten in Mainz gegen 21.25 Uhr mitgeteilt worden war, dass im überfluteten Schuld sechs Häuser eingestürzt seien. Bei ihren Vernehmungen hatten die Beamten immer wieder ausgesagt, sie hätten in der Flutnacht „nur rudimentäre Informationen gehabt“, die Dimensionen der Flutkatastrophe seien in der Nacht „nicht im Ansatz erkennbar gewesen“, so gab es etwa Arnd zu Protokoll. Doch in dem Lagebericht aus Koblenz heißt es um 01.49 Uhr nicht nur deutlich „6 Häuser in Schuld weggeschwemmt“, sondern auch: „ca. 25 Häuser drohen einzustürzen.“

CDU wirft Innenminister Lewentz Vertuschung vor

Überflutungen in Schuld in der Flutnacht, aufgenommen von einem Polizeihubschrauber gegen 22.30 Uhr. - Screenshot: gik
Überflutungen in Schuld in der Flutnacht, aufgenommen von einem Polizeihubschrauber gegen 22.30 Uhr. – Screenshot: gik

Die CDU-Opposition zeigte sich fassungslos: „Es ist unerträglich wie jeden Tag, scheibchenweise, neue Belege dafür bekannt werden, dass das Haus von Innenminister Lewentz am Flutabend sehr wohl über die katastrophale und lebensbedrohliche Lage an der Ahr Bescheid wusste“, kritisiert CDU-Obmann Dirk Herber: „Lewentz Verteidigungslinie, am Flutabend kein belastbares Lagebild gehabt zu haben, bricht wie ein Kartenhaus in sich zusammen.“

Dem Minister dürfe man „kein Wort mehr glauben“, angesichts seiner „Salami- und Vertuschungstaktiken“, schimpfte Herber, er erwarte, dass sich Ministerpräsidentin Malu Dreyer (SPD) der Sache annehme: „Ich stelle die Frage, wie die Landesregierung Rheinland-Pfalz ihre Verantwortung für 134 Flut-Tote tatsächlich wahrnimmt?“ Am Mittwoch wird der Landtag Rheinland-Pfalz in einer Sonder-Debatte genau darüber streiten – ab 15.15 Uhr stehen Rolle und Verantwortung von Innenminister Roger Lewentz in der Flutnacht zur Aussprache auf der Tagesordnung.

Info& auf Mainz&: Die Plenarsitzung des Mainzer Landtags beginnt am Mittwoch, den 12. Oktober 2022 um 14.00 Uhr mit der Einbringung des Haushalts für die Jahre 2023 und 2024, ab 15.15 Uhr folgt dann die Flutnacht-Debatte. Angesetzt sind dafür gut 3,5 Stunden, die Plenarsitzung kann im Livestream über die Homepage des Mainzer Landtags oder deren Youtube-Account live mitverfolgt werden. Auch der SWR überträgt die Sitzung am Mittwoch live in einem „SWR extra“.

Am Freitag werden dann im Untersuchungsausschuss zur Flutkatastrophe im Ahrtal unter anderem die Hubschrauber-Piloten vernommen. Was die Polizei-Videos aus der Flutnacht genau zeigen, findet Ihr hier auf Mainz&, mehr zu dem Vorgang der „verschwundenen“ Videos könnt Ihr hier bei Mainz& nachlesen. Mehr dazu, wie die Polizei-Videos aus der Flutnacht den U-Ausschuss überraschten und schockierten lest Ihr ausführlich hier bei Mainz&. Was der Innenminister in der Flutnacht wusste, haben wir ausführlich hier aufgeschrieben.